Die Ballonfahrerin des Königs
durchzugehen. Eines Tages aber kam uns die
rettende Idee.»
Guy de Serdaine lächelte in sich hinein. Die kleine Flamme des Kerzenstumpfes spiegelte sich in seinen grünen Augen, die den
ihren so ähnlich waren. «Es gab da einen Mann namens Jacques, der im Temple für die Beleuchtung zuständig war. Er war ein
einsilbiger Mensch, der von außerhalb kam und den keiner näher kannte. Jeden Morgen musste er die Laternen und Lampen vom
Ruß befreien, jeden Abend wieder anzünden. Er hatte überall im Temple Zutritt. Und was das Beste war: Stets begleitete ihn
ein Kind, ein Lehrling, der ihm zur Hand ging und der in etwa Louis-Charles’ Größe hatte.»
«Ihr wolltet die Kinder gegeneinander austauschen? Wie sollte das möglich sein?»
«Jacques konnte nicht eingeweiht werden, es hätte ein zu großes Risiko dargestellt. Doch der Mann hatte feste Gewohnheiten,
die wir uns zunutze machen wollten. Er versah seinen Dienst zwischen fünf und sechs Uhr abends. Wenn um sieben die Wache abgelöst
wurde, war er stets schon wieder draußen. Unser Plan sah so aus: Nach dem Wechsel der Wachen hätte man im Temple einen Mann
eingeführt, der wie Jacques gekleidet und ausgerüstet war. Toulan, der Dienst bei der Königin hatte, hätte ihn herbeigerufen
und ihn vor allen Soldaten ausgeschimpft, er hätte seinen Lehrling geschickt, um die Laternen anzumachen, statt seine Arbeit
selbst zu erledigen. Unter lauten Vorhaltungen hätte er dem vermeintlichen Jacques seinen Lehrling in die Arme gedrückt und
beide aus dem Temple werfen lassen, wo Jarjayes sie alsbald empfangen und in Sicherheit gebracht hätte.»
|162| Marie-Provence lächelte. «Ein guter, einleuchtender Plan, wir mir scheint.»
Ihr Vater lachte auf, zum ersten Mal an diesem Abend, und der vertraute Laut löste ein Glücksgefühl in ihrer Magengrube aus.
«Ja, im wahrsten Sinne des Wortes! Ich habe tagelang geübt, um mit dem Anzünder umgehen zu können und einigermaßen routiniert
eine Straßenlaterne zu erleuchten!»
Ihr stockte der Atem. «Du? Du solltest den Part von Jacques übernehmen?»
«Hm.» Auf einmal war er wieder ernst. «Ich war so fest davon überzeugt, dass alles klappen würde! Für mich bestand nicht die
Spur eines Zweifels. Doch dann brachen Unruhen aus, die alles zunichte machten. Die Convention erklärte England, Holland und
Spanien den Krieg. Russland und Österreich zeigten die Zähne. Die Bretagne und die Vendée erhoben sich und erklärten Louis
XVII. zu ihrem neuen König. Darauf rekrutierte der Staat zwangsweise dreihunderttausend Soldaten. Die ersten Kämpfe gegen
die Österreicher waren ein Desaster. Das zuvor überfallene Belgien wurde offiziell annektiert, doch Frankreich verlor Aachen,
Maastricht und Lüttich. Die Menschen in Paris bekamen Angst vor einer Invasion aus dem Ausland. Es gab Plünderungen aus Furcht
vor einer Hungersnot.»
Guy de Serdaine schüttelte den Kopf. «Ich habe es immer als besondere Ironie empfunden, dass es die Siege der Alliierten der
Bourbonen waren, die Marie-Antoinettes Schicksal besiegelten, dass gewissermaßen ihre eigene österreichische Familie ihre
Flucht verhinderte. Die Unruhen führten dazu, dass die Regierung härter denn je durchgriff. Und den Temple akribischer als
je zuvor bewachen ließ. Der kleine Louis-Charles war Frankreichs kostbarstes Pfand. Männer wurden ausgetauscht, Augen und
Ohren lauerten überall. Uns waren die Hände gebunden. Wir mussten unsere Pläne zunächst verschieben, dann aufgeben.»
«Ihr habt es nie wieder versucht?»
«Die Königin hätten wir nach wie vor mit einer eingeschmuggelten |163| Uniform retten können. Ich habe lange auf sie eingeredet, alles versucht, aber …» Er wischte sich über den Mund.
«Aber die Königin wollte nicht», schloss Marie-Provence sanft.
Ihr Vater griff in sein Bündel, hielt ihr ein schmutziges, abgegriffenes Papier hin.
Sie entfaltete es und las:
«Mon ami,
Sie werden es mir übelnehmen, aber ich habe mich entschieden. Hier lauert nur Gefahr, und der Tod ist schneller und gnädiger
als ein Leben voller Schuldgefühle.
Wir hatten alle einen schönen Traum. Nicht mehr. Doch wir haben auch viel durch ihn gewonnen. Nämlich einen neuen Beweis Ihrer
Ergebenheit für mich. Mein Vertrauen in Sie ist grenzenlos.
Welches Glück ich auch empfunden hätte, diesen Mauern zu entkommen, ich kann mich nicht dazu durchringen, meinen Sohn zu verlassen.
Ohne mein Kind wäre das Leben für
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