Die Ballonfahrerin des Königs
haben! Er hat persönlich dafür gesorgt, dass Mama verurteilt wurde! Er hat …»
«Einen Grund?», unterbrach sie ihr Vater barsch. «Glaubst du tatsächlich, diese mordenden Banden haben alle einen persönlichen
Grund, Wehrlose abzuschlachten?» Er lachte bitter auf. «Was für einen Grund hat der tollwütige Hund, sein Opfer zu zerfleischen?»
Marie-Provence senkte den Kopf. «Du warst also die ganzen Monate in Marseille?», lenkte sie ab.
«Nein», sagte ihr Vater ruhiger. «Nur bis zum Anbruch des |157| Winters. Dann war ich überzeugt, dass du entweder geflohen bist und ich dich nur durch Zufall wiederfinden würde oder dass
du nicht mehr am Leben bist.» Sein Blick suchte das schmale, vergitterte Fenster. «Der König und die Königin waren tot, meine
Familie höchstwahrscheinlich auch – ich bin ins Ausland. Hier hielt mich nichts mehr … Hast du ein Handtuch?»
Sie reichte ihm das Verlangte. Er stieg aus dem Wasser und wickelte sich das breite Leinentuch um die Hüften. Er war ein gutgebauter
Mann mit den muskulösen Oberschenkeln eines Kavalleristen. Dennoch fiel Marie-Provence auf, dass seine Schulterblätter hervorstachen
und seine Wangen hohler waren als in ihrer Erinnerung. Offensichtlich hatte auch er seinen Hunger nicht immer stillen können
in den letzten Monaten.
«Ich habe zu Condé aufgeschlossen.»
Marie-Provence sah auf. Der Prinz von Condé war vor der Revolution einer der ersten Edelmänner des Landes gewesen und verfügte
über große Reichtümer. «Es wird in Paris viel über Condés Armee erzählt. Die Leute haben Angst vor ihm», sagte sie.
«Vor wem sollten sie auch sonst Angst haben? Condés Männer gehören der einzigen organisierten royalistischen Gegenbewegung
an, die den Namen Armee verdient. Gerade einmal sechstausend Männer zählen dazu. Ich traf in Landau auf sie, während sie vor
den revolutionären Truppen flohen. Die Winterwochen verbrachten wir in Rastatt, dann zogen wir in den Schwarzwald nach Lahr.
Dort bekam ich die Nachricht, dass du lebst.» Guy de Serdaine schüttelte lächelnd den Kopf. «Der gute Cortey! Wäre er nicht
gewesen, hätten wir uns vielleicht nie wiedergefunden!»
«Cortey? Cortey der Krämer?», fragte Marie-Provence verblüfft.
Guy de Serdaine nickte. «Wir waren in Kontakt geblieben seit der Zeit, als wir zusammen um das Leben der Königin gekämpft
hatten. Er schrieb mir etwas von einem schneidigen jungen Ding, das behauptete, meine Tochter zu sein. |158| Ich bin sofort los. Ich habe es nie für möglich gehalten, dass du in diesen gefahrvollen Zeiten die ganze lange Reise nach
Paris hättest machen können. Doch als ich davon erfuhr, bin ich natürlich als Erstes zu unserem Haus.» Er lächelte. «Die alte
Dorette wäre fast in Ohnmacht gefallen, als ich plötzlich vor ihr stand.»
Seine Füße hinterließen feuchte Spuren auf den gebrannten Fliesen, als er zur anderen Ecke des Raumes ging. Sein Bündel hatte
er auf dem alten Küchentisch abgelegt, eines der wenigen Möbelstücke, die von den Plünderern übrig gelassen worden waren,
weil es zu vierschrötig war, um leicht zerstört oder mitgenommen zu werden. Er rollte das Päckchen aus und entnahm ihm ein
zerknittertes Hemd, das kaum sauberer schien als das zerschlissene Etwas, mit dem er bei seiner Ankunft bekleidet gewesen
war.
«Ich muss morgen nach Paris. Ich habe bei einem Freund ein paar Kleider hinterlegt, die ich abholen muss.»
Seine Haare waren lang und ungepflegt, wie Marie-Provence feststellte, und auf seinen Wangen wucherten Bartstoppeln. Er, der
immer Wert auf sein Äußeres gelegt hatte und dessen Erscheinung ihre Kinderbrust vor Stolz hatte schwellen lassen, kam daher
wie ein Strolch. Sie musste an Croutignac und den seidenen Morgenmantel denken, und auch an das in Lumpen gehüllte Kind mit
dem stumpfen Blick, das im Turm vom Temple dahinsiechte. Alles war so ungerecht!
«Hast du mit Cortey schon gesprochen?», fragte sie.
Guy de Serdaine sah auf. «Ich konnte nicht glauben, was er mir erzählte. Wie kommst du dazu, dir so etwas vorzunehmen wie
die Befreiung von Louis’ Sohn?»
Sie hob das Kinn. «Du traust es mir nicht zu?»
Er ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. «Natürlich traue ich es dir zu. Du kannst alles schaffen, was du dir vorgenommen
hast.»
Auf einmal fiel alle Wut von ihr ab, und ihre Augen wurden feucht. Ja, das war es, weshalb sie ihn als Kind vergöttert hatte!
Er hatte immer an sie
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