Die Ballonfahrerin des Königs
mich wertlos, und diese Erkenntnis lässt Bedauern gar nicht erst in mir aufkommen.
Ich wünschte, es ginge Ihnen ebenso. Ihnen und auch den Männern, die für mich gekämpft haben und an Ihrer Seite waren.
Gott schütze Sie alle.
M. A.»
Marie-Provence faltete den Brief wieder zusammen. «Sie hat ihren Sohn sehr geliebt», sagte sie leise.
«Ja. Ja, das hat sie.»
Der Tonfall ihres Vaters ließ Marie-Provence aufsehen. «Ich dachte immer, du magst die Königin nicht», gestand sie. «Ich erinnere
mich an Streitgespräche zwischen dir und maman …»
Guy lächelte. «Diese Streitgespräche fanden hauptsächlich deinetwegen statt.»
|164| «Meinetwegen?»
«Angèle nahm dich meiner Meinung nach zu oft mit. Sie ließ dich mit den Kindern spielen und setzte dich der lasterhaften Atmosphäre
des Hofes aus. Das konnte ich nicht gutheißen.»
Lasterhaft? Marie-Provence erinnerte sich an fröhliche Ballpartien im verzauberten Park des Trianon, an Versteckspiele und
Versuche, die königlichen Fische im künstlichen Bachlauf zu ködern. Ja, sie hatte viele Stunden im Park verbracht – wie viele,
hätte sie unmöglich sagen können. Doch immer war sie von strahlend blauen Augen empfangen worden, und immer, so schien es
ihr, hatte sich damals eine kleine, klebrige Hand in die ihre gelegt.
Marie, da bist du ja endlich! Komm, lass uns Soldaten spielen!
«Deine Mutter war bereit, über Marie-Antoinettes Fehler hinwegzusehen», fuhr Guy de Serdaine fort. «Sie sah in ihr eine Freundin
voller Liebreiz und Geist, die an einen schwerfälligen, unattraktiven Mann gefesselt war. Ich hingegen konnte die Augen nicht
davor verschließen, dass Marie-Antoinette als Königin versagte, dass ihre Vergnügungssucht, ihr Egoismus und ihre Gleichgültigkeit
gegenüber den Staatsgeschäften das Land in eine Katastrophe führten. Allerdings … Sie war sehr gereift, in der letzten Zeit. Der Brief bezeugt es. Sie hat nicht wie eine Königin gelebt. Aber sie ist wie
eine Königin gestorben.» Er ballte die Faust. «Ich werde ihren Sohn verflucht nochmal aus diesem Turm rausholen, koste es,
was es wolle!»
Marie-Provence nickte. Sie legte ihre beiden Hände auf die Faust ihres Vaters. «Ja, Vater. Das werden wir.»
|165| 6. KAPITEL
Messidor, Jahr II
Juli 1794
André hatte an diesem Morgen eigentlich nicht vorgehabt, in der maison de la couche vorzusprechen. Er hatte wieder einmal
die Nacht im Labor verbracht, das er sich auf dem Gelände der Tapetenfabrik eingerichtet hatte. Drei Zimmer waren es, und
in letzter Zeit nächtigte er dort öfter als im Haus seiner Eltern. Seit Wochen versuchte er, dem Geheimnis des Ultramarin-Farbstoffes
auf die Spur zu kommen. Der Preis des Gesteins aus Persien war derart gestiegen, dass die Papierfabrik Levallois vorerst die
Herstellung der Tapeten eingestellt hatte, die mit diesem Farbstoff bedruckt wurden.
Inzwischen war André sich sicher, dass er für das Blau außer dem Kaolin noch Natriumderivate brauchte – Glaubersalz oder Soda
zum Beispiel. Und Schwefel. Er hatte sich in aller Frühe in eine ihm bekannte Apotheke auf der île de la Cité begeben, um
diese Stoffe zu besorgen, und befand sich bereits auf dem Rückweg, als der Klang der Glocke von Notre-Dame in ihm die Sehnsucht
nach Marie-Provence weckte.
«Citoyenne Mousnier, kannst du mir sagen, wo ich die citoyenne Duchesne finde?», fragte André, als er in das Waisenheim stürmte.
Die ältere Frau drehte sich um. «Um ehrlich zu sein, das wüsste ich auch gerne. Unten wartet ein halbes Dutzend schwangerer
Frauen, die sich nichts sehnlicher wünschen, als einmal von Marianne berührt zu werden und ihren Segen für Frankreichs zukünftige
Kinder zu bekommen.» Sie lächelte säuerlich. «Sag der Duchesne Bescheid, wenn du sie siehst. Schließlich hat man auch gewisse
Verpflichtungen, wenn man berühmt ist.» Die Alte rauschte davon.
|166| Schließlich entdeckte André Marie-Provence in der grande salle im zweiten Stock, ganz hinten vor einem Fenster sitzend. Er
sah sich neugierig um: Der Saal war gefüllt mit unzähligen kleinen Betten, und in jedem dieser kleinen Betten lag ein Kind.
Über hundert Säuglinge schätzte André, allesamt sauber gewickelt und mit einem hellen Leinentuch bedeckt. Zwischen den vier
nach Seife und vollen Windeln riechenden Reihen liefen Frauen mit breiten Schürzen hin und her, die schlafende Kinder umdrehten
oder schreiende Säuglinge
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