Die Ballonfahrerin des Königs
der einmal am Tag die verstümmelten Körper der Exekutierten zu ihrem Massengrab brachte, war nun immer gut gefüllt. Die Henker
arbeiteten sechs Stunden am Tag. Man sagte, selbst in den schlimmsten Zeiten der letzten Jahre seien nicht so viele Menschen
zum Tode verurteilt worden wie in den vergangenen Wochen.
Marie-Provence ignorierte diese neue Welle der Gewalt, so gut sie konnte. Es half schließlich nichts, sich verrückt machen
zu lassen. Irgendwie musste sie weiterleben. Ihre Gedanken wurden plötzlich unterbrochen, als ihr Onkel zurückkehrte. Sein
Anblick ließ sie zu ihm eilen. «Oncle Constantin? Was ist mit Ihnen? Geht es Ihnen nicht gut?»
Der alte Mann hatte die Augen weit aufgerissen. «Da! Dahinten!», rief er und zeigte mit zitternder Hand hinter sich.
Tante Bérénice trippelte eiligst herbei, auch die Tanzenden erstarrten, und schließlich verstummten sogar die Geigenklänge.
«Was ist los? Was hat er?»
«Ein Mann! Ich habe einen Mann gesehen!», stotterte Oncle Constantin. «Sie kommen! Wir müssen verschwinden!»
«O mein Gott!», hauchte Madame de Vezon.
Marie-Provence und ihre Tante wechselten einen Blick. Zu spät.
|155| Schritte ertönten in der Stille. Eine Gestalt näherte sich. Trat in den Schein der Kerzen.
Marie-Provence schnappte nach Luft.
«Vater!», schrie sie.
***
«Ah, ist das herrlich!», stöhnte Guy de Serdaine. «Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal ein warmes Bad genommen
habe!»
Marie-Provence warf einen Blick über die halbhohe Mauer; dahinter befand sich eine im Boden eingelassene, wie ein vierblättriges
Kleeblatt geformte Wanne, in der ihr Vater sich wohlig räkelte. Sie befanden sich in der kleineren der beiden Küchen, die
zu den Wirtschaftsräumen gehörten. Diese war von dem Erbauer angelegt worden, damit der Schlossherr dort seiner Leidenschaft
für physikalische Experimente nachgehen konnte. Sie verfügte nicht nur über einen mittelgroßen Kamin und ein langes Waschbecken,
sondern auch über zwei kleine Öfen und die riesige formschöne Wanne, in der vier Menschen bequem Platz fanden. Die handgroßen,
sechseckigen Terrakottafliesen und der warme, erdfarbene Anstrich verliehen dem Raum eine Gemütlichkeit, die man in den prunkvollen
Räumen der oberen Etagen vermisste.
«Nach dem, was ich verstanden habe, bist du hier also Ernährungsoffizier, Erkundungstrupp und Außenposten in einer Person»,
sagte Guy de Serdaine staunend. «Nicht schlecht für einen neuen Rekruten.»
«Du weißt, ich brannte schon als Kind darauf, mit dir zu ziehen. Jetzt hast du endlich den Beweis, dass ich bestens geeignet
wäre», antwortete Marie-Provence lächelnd und spähte erneut über die Mauer. Sie konnte ihr Glück noch immer nicht fassen.
Alle paar Sekunden musste sie sich vergewissern, dass ihr Vater tatsächlich lebte, dass es wirklich er war, der dort im Schein
der Kerze badete.
Ihrem Vater mochte es ähnlich ergehen. Seine grünen Augen blitzten, als ihre Blicke sich trafen. «Ich kann nicht |156| glauben, dich endlich wiedergefunden zu haben», sagte er. «Ich hasse, es zugeben zu müssen, aber ich hatte die Suche schon
aufgegeben.»
«Du hast nach mir gesucht? Auch ich habe dich für tot gehalten! Dorette erzählte mir, du seiest verhaftet worden. Bis zum
Gefängnis von Saint-Lazare habe ich deine Spur verfolgt. Dort sagte man mir, du seist zum Tode verurteilt und exekutiert worden.»
Guy de Serdaine nickte. «Um ein Haar wäre es in der Tat um mich geschehen gewesen. Ohne die Hilfe von ein paar Freunden, die
einen Wächter bestochen haben, würde ich heute nicht in dieser Wanne sitzen. Dann erfuhr ich, dass Angèle nicht mehr lebte,
und …» Er hielt inne und schluckte. «Auf die Idee, dich hier zu suchen, kam ich nicht. Ich machte mich sofort auf den Weg nach
Marseille. Dort habe ich die Stadt Straße für Straße durchkämmt. Wochenlang. Euer Haus stand verlassen da, und ihr wart wie
vom Erdboden verschluckt. Keiner konnte mir etwas über euer Schicksal sagen.»
«Du bist nach Süden gefahren, und wir sind Hals über Kopf nach Norden geflohen.» Leise sagte Marie-Provence: «In Paris bin
ich nach Hause, doch da war nur dieser schreckliche Mann.»
«Croutignac!», stieß ihr Vater aus.
«Er hasst uns, Vater. Kannst du mir sagen, warum?»
Das Gesicht ihres Vaters verschloss sich. «Er hasst uns, wie er alle hasst, die einmal zur Elite dieses Landes gehörten.»
«Er muss doch einen Grund
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