Die Ballonfahrerin des Königs
zum quai des Augustins zu rennen.» Er schleuderte
seinen Dreispitz auf den Stuhl, an dem schon sein Bajonett lehnte.
Cédric befeuchtete seine Lippen. «Soll das heißen, dass du …»
Corbeau schüttelte den Kopf. «Der Hinweis war gut. Das Mädchen war da, das haben mir die Nachbarn eindeutig bestätigt. Doch
die Kollegen haben in Marseille ziemlich gewütet – die Urlards und ihre Nichte sind geflohen. Des Nachts und so heimlich,
dass keiner was gemerkt hat, und keiner weiß, wohin.» Er zuckte die Schultern und machte eine wegwerfende Handbewegung. «Disparus,
ausgeflogen.» Mit einem müden Seufzer fügte er hinzu: «In der Stadt sind sie nicht mehr, so viel steht fest. Wenn sie Glück
hatten und ein wenig Verstand, sind sie längst jenseits der Grenze.»
Cédric fühlte, wie seine Haut sich spannte. Er hieb mit der Faust auf seine offene Hand. «Das sind sie nicht! Das Mädchen
war doch bei mir! Sie müssen irgendwo in Paris Zuflucht gefunden haben. Hast du denn gar keinen Hinweis darauf finden können,
wo sie sein könnten?»
«Keine Chance. Selbst wenn es diesen Hinweis je gegeben |205| hätte, wäre er längst verwischt. Das Haus der Urlards ist gründlich geplündert worden. Da steht nichts mehr an seinem Platz.»
Cédric kehrte ihm den Rücken zu und starrte auf die vergitterte Tür. Der Juckreiz, der sich im Nu über seinen Körper ausbreitete,
peitschte ihn voran. Er begann, unruhig auf und ab zu wandern. So segensreich die Umwälzungen der letzten Jahre auch waren,
es war ungeheuerlich, wie sie wichtige polizeiliche Ermittlungen immer wieder in eine Sackgasse laufen ließen!
«Verflucht, irgendwie muss dieses Mädchen doch auffindbar sein!», rief Cédric wütend. Er riss seine Ärmel hoch und blieb stehen.
Einen Augenblick lang war nichts zu hören als das trockene Geräusch seiner Nägel, die über seine Haut schabten. Er erstarrte,
gefangen in der Linderung seiner Qualen. Doch dann nahm er die Bewegung wahr, im Halbdunkel auf der anderen Seite des Gitters.
Er sprang auf sie zu, und die Gestalt jenseits der Tür stolperte zurück. «Was denn, Capet, du belauschst uns? Dir geht es
wohl besser?»
Nichts bewegte sich auf dem grauen Gesicht, das ihn aus der Dunkelheit heraus anstarrte.
Und dann, plötzlich, passierte es: Ohne Vorwarnung drang ein anderes Kindergesicht aus Cédrics Erinnerung vor und überlagerte
das Antlitz des Jungen. Ebenso grau und mit einer Tiefe im Blick, die von abgründigem Leid sprach, einem Leid, das nicht für
Kinder erschaffen worden war und am Sinn dieser Welt verzweifeln ließ.
Cédric prallte mit einem heiseren Laut zurück. «Was habt ihr mit dem Jungen gemacht? Hat er heimlich zu essen bekommen?»
Corbeau wurde bleich und schüttelte den Kopf. «Aber nein, citoyen, ich schwöre, dass …»
«Wenn nicht du, so war es ein anderer!», schrie Cédric. «Sieh ihn dir an! Er hat noch immer genug Kraft, um aufsässig zu sein!»
Er zeigte der vergitterten Tür eine Faust. «Du wirst schon noch lernen, zu buckeln! Nie wieder wird einer deiner Sippe Macht
über andere haben, hörst du? Nie wieder!» |206| Er wirbelte zu Corbeau herum. «Kein Essen für ihn heute! Er hat genug.»
Corbeau schluckte und streckte die Hand aus. «Das …»
«Widersprich mir nicht!», herrschte Cédric ihn an.
«Das wollte ich auch nicht. Ich wollte dir nur ein Taschentuch reichen», sagte Corbeau. Er deutete flüchtig auf seinen Arm.
«Du blutest.»
Cédric starrte auf die nassroten Striemen, die seine haarigen Unterarme überzogen. Alle Luft entwich auf einmal seinen Lungen,
Erschöpfung machte sich breit. Das Tuch ignorierte er. Bevor er den Raum verließ, drehte er sich noch einmal um. «Es bleibt
dabei. Er hungert heute», sagte er tonlos. Dann wandte er sich ab, um mit schweren Schritten den donjon zu verlassen.
***
Marie-Provence sah sich um und war zufrieden. Sie hatte nicht viel mitgebracht, doch die paar Kleidungsstücke und ihre Waschsachen
reichten aus, um das Zimmer bewohnt aussehen zu lassen. Sie strich über die Bettdecke mit dem Blumenmuster. Madame Jomart
hatte sich viel Mühe gegeben, um den Raum gemütlich einzurichten. Holzboden und Wände waren blitzsauber, ein Strauß Margeriten
stand auf dem kleinen Tisch, und die kurzen Vorhänge, die das Mansardenfenster rahmten, sahen neu aus.
Sie setzte sich auf das Lager. Noch war viel Zeit bis zum Abendessen bei den Jomarts. Es würde ihre erste Nacht in dem kleinen
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