Die Ballonfahrerin des Königs
unendlich viel Kraft gekostet.
Aber sie hatte keinen zur Hilfe rufen wollen, bis der Fremde sicher in ihrer Küche gelegen hatte, um nicht auf den geheimen
Zugang aufmerksam zu machen. Erst dann hatte sie den Arzt wecken lassen, dessen Verschwiegenheit sie schätzte, seit er ihre
Wunden von Georges Schlägen behandelt hatte.
Es hatte sich herausgestellt, dass ihr Gast unter mehreren gebrochenen Fingern und einer ausgerenkten Schulter litt. Unter
dem Schlamm, der seinen ganzen Körper bedeckte, kamen etliche Schrammen und Prellungen zum Vorschein. Seine Nase war angeschlagen,
aber nicht gebrochen, wie docteur Veille versicherte. Über die eigroße Schwellung am Hinterkopf hatte der Arzt sich zunächst
ausgeschwiegen. |200| Klar war, dass der Mann viel Ruhe benötigte. Wenn er aus seiner Ohnmacht erwachte, so versicherte der Arzt, würde er das Gröbste
hinter sich haben.
Rosanne hatte genickt, sich aufgeschrieben, was der Arzt empfahl, und darauf gewartet, dass der Mann die Augen aufschlug.
Im Laufe der Tage war sein Anblick ihr mehr und mehr vertraut geworden. Immer wieder hatte sie sich gefragt, wer er wohl sei
und wie er in diesen Tunnel gekommen war. Natürlich war es gewagt von ihr, diesen Fremden mit in ihr Heim zu nehmen. Doch
in ihr hatte sich unmerklich die Überzeugung festgesetzt, dass sie Vertrauen in ihn haben konnte. Als er sie dann endlich
zum ersten Mal ansah, begrüßte sie ihn wie einen alten Bekannten.
«Citoyen? Hörst du mich?»
Der Mann schlug mit den Lidern. Seine dunklen Augen irrten ein paar Sekunden im kleinen Raum umher, blieben dann an Rosanne
hängen.
Sie lächelte und wartete gespannt. Ob sie heute seinen Namen erfahren würde? Bisher war er noch zu schwach zum Reden gewesen.
Vorsorglich griff sie die bereitstehende Schüssel. «Wie fühlst du dich?»
Ein zaghaftes Lächeln huschte über seine aufgeschlagenen Lippen. Er setzte zum Sprechen an, aber nur ein Krächzen drang aus
seiner Kehle.
«Warte!» Rosanne setzte ein Glas Wasser an seine Lippen und stützte seinen Kopf, als er es in kleinen Zügen lehrte.
«Danke!», ertönte rau und leise seine Stimme. Er deutete mit seiner unverletzten Hand auf die Schüssel. «Ich glaube, die brauche
ich heute nicht mehr. Ich habe … Hunger.»
Rosanne strahlte. Die ständige Übelkeit, unter der ihr Patient gelitten hatte, hatte nicht unwesentlich zu seiner Schwäche
beigetragen. Niemand trank ungestraft vom Wasser der Seine, und dieser Mann hier hatte mit Sicherheit becherweise davon geschluckt.
Voller Elan griff sie zur Suppe. «Das trifft sich gut! Ich habe nämlich etwas ganz besonders Leckeres für dich gekocht.»
Er lächelte sie wieder an. «Wie heißt du?»
|201| «Rosanne.» Rosanne senkte den Blick. «Rosanne Bonardin.»
«Rosanne, du musst mein ganz persönlicher Engel sein.»
***
«Rosanne? Rosanne, bist du da?»
Marie-Provence sah sich in der Küche um, konnte ihre Freundin aber nirgendwo entdecken. Schmutziges Geschirr und Töpfe stapelten
sich im Waschbecken, auf dem Tisch lagen ein Wiegemesser und ein zur Hälfte zerkleinertes Bündel glatter Petersilie. Schnell
wandte sie ihren Blick von den Essensresten ab. Seit vier Tagen, seit der Überflutung der Keller und Andrés Tod, verursachte
jegliche Nahrung bei ihr Übelkeit. Und sie war nicht die Einzige, der es so erging. Alle drei Männer, die wie sie Wasser geschluckt
hatten, litten mehr oder weniger unter den Folgen ihres unfreiwilligen Bades. Selbst ihr Vater hatte sich einen Tag lang unter
Krämpfen im Bett gewunden. Infolgedessen hatte sich in der letzten Zeit auch keiner gewundert, wenn sie sich unter einem Vorwand
von der kleinen Gruppe zurückzog. Sie holte Luft und zwang sich, weiterzusuchen.
«Im Garten ist sie nicht.» Guy de Serdaine erschien in der Küche. «Hast du sie gefunden?»
Sie schüttelte den Kopf. «Ich werde oben nachsehen gehen. Obwohl ich mir kaum vorstellen kann, dass sie das Geschirr stehen
lässt, um sich ins Bett zu legen.»
Ihr Vater nickte. «Gut. Ich gehe wieder raus. Ich brauche etwas frische Luft.»
Marie-Provence versuchte nicht, ihn zurückzuhalten, doch das, was sich in ihrem Hals festgesetzt hatte und ihr das Atmen schwermachte,
verstärkte sich noch ein wenig. Sie ging in Richtung Treppe.
Seit der Katastrophe war dies ihr erster Besuch in Sartrouville. Die Überschwemmung hatte die Nabelschnur zwischen Maisons
und der kleinen Kirche durchtrennt. Sie waren nun gezwungen,
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