Die Bancroft Strategie: Roman (German Edition)
die Situation vom dortigen US-Konsulat aus überwacht hatte, hatte das Schlimmste befürchtet: dass ihr wichtigster Informant nicht einfach unfähig, sondern ein Verräter war. Aber das war nicht die Erklärung, die Rinehart ihm damals gegeben hatte.
Stattdessen hatte er nur mit den Schultern gezuckt und gefragt: »Wo sonst könnte man hoffen, eine Blauflügel-Bergtangare zu sehen?«
Jetzt öffnete Belknap die Augen, blinzelte noch schlaftrunken, spürte den Luftstrom aus der Belüftungsdüse über sich, betastete seinen Sitzgurt und wusste wieder, wo er war. Er befand sich an Bord einer Chartermaschine, die den Empire State Chorus zu einem internationalen Musikfestival in der estnischen Hauptstadt Tallinn brachte. Todd Belknap – nein, er war jetzt Tyler Cooper – begleitete den Chor als Beauftragter für das Kulturaustauschprogramm
des US-Außenministeriums. Belknaps alter Freund und ehemaliger Kollege »Turtle« Lydgate, der den Chorleiter kannte, hatte ihm diese Gelegenheit verschafft. Lydgate hatte darauf hingewiesen, dass Charterflüge weniger strikt überwacht wurden als der internationale Linienverkehr – und dass während des einwöchigen Sängerfests zahlreiche Chartermaschinen in Tallinn landen würden. Den Chormitgliedern gegenüber wurden vage Andeutungen gemacht, der Chor könne im Rahmen der neuen Initiative »Die bürgerliche Gesellschaft und die Künste« vom Kulturprogramm des US-Außenministeriums gefördert werden. Deshalb sollten sie Belknap wie ein Ehrenmitglied des Chors behandeln. Wie sich dann zeigte, waren sie sehr höflich, aber durch seine Gegenwart leicht eingeschüchtert, was ihm nur recht war.
Er befolgte jetzt neue Regeln: Sein knappes Entkommen in Raleigh war ein Schock gewesen, der zu höchster Vorsicht mahnte. Keine vom Dienst gestellten Ausweispapiere mehr. Er würde auf seinen geheimen Vorrat an nirgends nachweisbaren Papieren zurückgreifen müssen. Jeder gute Geheimagent, den er kannte, hatte einen solchen Vorrat – nicht etwa, weil er irgendwann desertieren oder untertauchen wollte, sondern einfach, weil Verfolgungswahn zu diesem Job gehörte. »Tyler Cooper« war eine seiner am besten getarnten und am glaubhaftesten konstruierten Legenden, und dieser Mann war er jetzt.
Er versuchte wieder einzuschlafen, aber über das gleichmäßige Brausen der Triebwerke hinweg hörte er … o Gott, wieder ihre verdammte Singerei!
Calvin Garth, der Chorleiter, hatte störrisches karottenrotes Haar, das er mit Grecian Formula zu bändigen versuchte, eigenartig volle Lippen, dickliche, zarte Hände und eine wiehernde kleine Lache. Noch schlimmer war, dass er wild entschlossen war, die Zeit in der Luft für weitere Chorproben zu nutzen. Nach dem Meckern einiger Chorsänger steigerte er sich in gerechten
Zorn hinein, auf den General Patton stolz und Bear Bryant neidisch gewesen wäre.
»Wisst ihr überhaupt, was hier auf dem Spiel steht, Leute?«, fragte er, indem er im Gang auf und ab marschierte. »Ihr haltet euch vermutlich für Veteranen des Tourneezirkus. Paris, Rio, Montreal, Frankfurt, Kairo und so weiter – diese Konzerte waren keine wirklich großen Ereignisse, Kids. Was Chorkunst betrifft, sind solche Veranstaltungsorte zweitklassig. Bestenfalls zum Einsingen geeignet, sonst nichts. Nein, dies ist die große Bewährungsprobe! Hier muss man siegen oder untergehen! In nur vierundzwanzig Stunden hört euch die ganze Welt zu! In einigen Jahren werdet ihr vermutlich erkennen, dass dies der wahrscheinlich wichtigste Moment eures Lebens war. Dies war der Augenblick, in dem ihr aufgestanden seid, um Freiheitslieder zu singen, und ihr seid gehört worden!«
Seine dicklichen Hände fuchtelten, um das Unaussprechliche auszudrücken.
»Also, eines könnt ihr mir glauben. Ihr wisst, dass ich überallhin reise, um auf dem Laufenden zu bleiben, was die Welt der Stimmen betrifft. Nun, was Chorkunst angeht, betreiben die Esten die Sache nicht nur spielerisch. Was Eishockey für die Kanadier, was Fußball für die Brasilianer ist – das ist Chorgesang für die Esten. Das ganze Volk ist chorverrückt. Deshalb müsst ihr ›repräsentieren‹, Leute. Jamal hier weiß, wovon ich rede.«
Sein Blick ruhte liebevoll auf einem schwarzen Tenor mit zu Furchen geflochtenem Haar und einem goldenen Ohrring.
»Tallinn ist Gastgeber für Chöre aus fünfzig Ländern in aller Welt. Sie werden hiermit …« Garth legte die flache Hand aufs Zwerchfell. »… und damit singen …« Er schlug
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