Die Bancroft Strategie: Roman (German Edition)
blaue Flecken an den Hüften bekam. Das Alarmsignal – rhythmisch, mechanisch, unaufhörlich – wurde mit jedem Piepsen kaum merklich lauter. Bald würde es in einen Dauerton übergehen, der anzeigte, dass das Sicherheitssystem aktiviert wurde. Einige Millionen E-Mails gelöscht. Der Trip hierher war vergeblich gewesen. Binnen Kurzem würde ihre letzte Spur zerstört werden.
Er hätte gern geschrien, hätte er nur genügend tief Luft holen können.
Andrea Bancroft erschauderte, als sie an Jared Rineharts Basiliskenblick und die Art und Weise dachte, wie er, auf einen reichen Fundus an Persönlichkeiten zurückgreifend, abrupt von einer Persona zur anderen wechselte. Seine Täuschungsgabe war beängstigend. Aber die Einblicke in seinen wahren Charakter waren noch beängstigender gewesen. Er sah in Belknap nicht nur ein Werkzeug, sondern noch etwas anderes; er hatte eine ungesunde Bindung zu dem Mann entwickelt, den er so geschickt manipuliert hatte. Zugleich – das schien als Tatsache festzustehen – fürchtete er Genesis nicht weniger, als Todd und sie selbst es taten.
Wie kam das? Warum war sie hier?
Andrea Bancroft lief wie ein eingesperrtes Tier ruhelos in ihrer Zelle auf und ab und kämpfte darum, das Flämmchen ihrer Hoffnung nicht erlöschen zu lassen. Pessimismus des Intellekts, Optimismus des Willens – das war das Mantra ihres alten Professors für spanische Literatur gewesen, der die Roten, die gegen Franco gekämpft hatten, vergöttert hatte. Sie erinnerte sich an einen Vers aus einem Gedicht des spanischen Dichters Rafael Garcia Adeva, das sie für eine Semesterarbeit hatte übersetzen müssen:
El corazón es un prisionero en el pecho,
encerrado en una jaula de costillas.
La mente es una prisionera en el cráneo,
encerrada detrás de placas de hueso …
Das Herz ist in der Brust gefangen,
in einem Käfig aus Rippen eingeschlossen.
Der Verstand ist im Schädel gefangen,
hinter diesen Knochenplatten eingeschlossen …
Die Zeilen fielen ihr mühelos ein, aber sie brachten keinen Trost. Ein echter Gefangener wusste zumindest, wo sein Gefängnis lag. Sie dagegen hatte keine Ahnung, wo sie sich befand. Wirklich im
Norden des Bundesstaats New York? Durchaus denkbar. Sie wusste jedoch, dass dies kein richtiges Gefängnis war; Rinehart hatte es als »Kloster« bezeichnet, und Andrea vermutete, dass das nicht scherzhaft gemeint gewesen war. In einem ehemaligen Kloster würde es viele solcher Zellen geben, die sich leicht so umbauen ließen, dass ein Ausbruch physisch unmöglich war. Vielleicht nicht, wenn man Todd Belknap hieß. Aber sie war nicht Todd. Sie würde hier nicht ausbrechen können.
Physisch unmöglich . Aber ein Gefängnis bestand nicht nur aus Mauern und Stahltüren. Hier gab es auch Menschen, und wo Menschen ins Spiel kamen, konnten unerwartete Dinge passieren. Sie erinnerte sich an den Wärter mit dem starren Hechtblick. Ma’am, Sie haben es nur meiner Professionalität zu verdanken, dass ich Sie jetzt nicht brutal vergewaltige . Sie sah wieder zu den Leuchtstoffröhren über der Tür hinüber, deren abscheulich sterile Helligkeit an den starken Lichtstrahl der Lampe eines Vernehmers erinnerte.
Ein Gefängnis, das eigentlich keines war. Tatsächlich hatten einige der hiesigen Einrichtungen etwas leicht Provisorisches an sich. Während das WC dem Gefängnisstandard entsprach, war die uralte Badewanne ein sehr ziviles Stück. Die Deckenleuchte über der Tür war für sie erreichbar; in einem richtigen Gefängnis wäre sie mit einem Drahtkäfig gesichert gewesen. Sie hätte vermutlich mit einem Stromschlag Selbstmord verüben können, wenn sie’s darauf angelegt hätte – auch das im Gegensatz zu einem regulären Gefängnis. Der Wärter, der mit dem »Futter« gekommen war – ein Mann mit behaarten Unterarmen, sonnengebräuntem Gesicht und dichtem schwarzem Bart, den er ziemlich kurz trug –, hatte ihr kein abwaschbares Kunststofftablett, sondern ein Tablett aus Alufolie gebracht, wie es in Supermärkten mit Fertiggerichten verkauft wurde. Andrea hatte es abgewaschen, nur um etwas zu tun zu haben; das Tablett würde bestimmt wieder abgeholt werden, wenn der nächste Wärter kam.
Aus irgendeinem Impuls heraus beschloss sie, die Wanne zu füllen; sie setzte den Gummistöpsel ein und drehte beide Hähne ganz auf. Rostflocken in dem herausschießenden Wasser bewiesen, dass es lange in der Leitung gestanden hatte. Während die Wanne sich füllte, saß Andrea auf
Weitere Kostenlose Bücher