Die Bancroft Strategie: Roman (German Edition)
drängend. »Ich habe getan, was Sie wollten. Sie dürfen mich nicht hier zurücklassen.«
»Sie werden bald gefunden.«
»Sie wollen mir die Fesseln nicht abnehmen?«
»Das kann ich unmöglich riskieren. Nicht, solange ich hier rauszukommen versuche. Das wissen Sie.«
Jussuf Ali riss erschrocken die Augen auf. »Aber Sie müssen mich freilassen!«
»Aber ich tu’s nicht.«
Nach einigen langen Sekunden verschleierte Resignation, sogar Verzweiflung den Blick des Mannes. »Dann müssen Sie mir einen Gefallen tun.« Der Gefesselte wies mit dem Kopf auf seine noch auf dem Fußboden liegende Pistole. »Erschießen Sie mich!«
»Ich habe gesagt, dass ich alles tue, was nötig ist. Aber das gehört nicht dazu.«
»Sie müssen meine Lage verstehen. Ich war ein loyaler Diener Chalil Ansaris, ein guter und treuer Soldat.« Der Tunesier starrte bedrückt zu Boden. »Werde ich hier aufgefunden«, fuhr er mit gepresster Stimme fort, »bin ich entehrt … dann wird an mir ein Exempel statuiert.«
»Sie werden zu Tode gefoltert, meinen Sie. Wie Sie andere zu Tode gefoltert haben.« Wo bist du, Jared? Was tun sie dir an? Die Dringlichkeit von Belknaps Auftrag schien von innen gegen seinen Brustkorb zu hämmern.
Jussuf Ali erhob keine Einwände. Wie qualvoll und demütigend solch ein Tod sein konnte, wusste er sehr genau, denn er hatte oft genug mitgeholfen, ihn anderen zuzufügen. Ein langsamer und entsetzlicher Tod, der jemandem, dem Ehre und Stolz mehr als alles andere bedeuteten, das letzte Atom Ehre und Stolz rauben würde.
»Das habe ich nicht verdient«, rief er mit rauer, trotziger Stimme aus. »Ich habe Besseres verdient!«
Belknap drehte eine Art Tresorrad, das eine ganze Reihe von Schließbolzen zurückzog. Die massive Tür glitt auf und ließ kühle Luft ein.
»Bitte«, sagte der Mann heiser. »Erschießen Sie mich. Das wäre eine Gnade.«
»Richtig«, bestätigte Belknap gleichmütig. »Deshalb tue ich’s nicht.«
Kapitel fünf
Andrea Bancroft war auf dem Pfad unter den Bäumen zu Paul Bancrofts Haus unterwegs. Ihr Verstand füllte sich mit treibenden Knäueln halb ausgebildeter Gedanken. Die Abendluft duftete nach den wie zufällig verteilten Klumpen von Lavendel, wildem Thymian und Vetiver-Gras auf dem sanften Höhenzug, der die beiden Grundstücke kaum merklich voneinander trennte. Bancrofts Haus schien aus derselben Periode wie das Hauptgebäude zu stammen, denn es wirkte ebenso harmonisch. Wie bei der Zentrale der Stiftung verschmolz seine Fassade aus altem Klinker und rotem Sandstein so mit der Landschaft, dass es umso imposanter wirkte, wenn seine Umrisse endlich klar hervortraten, weil man nun erkannte, wie viel schon immer zu sehen gewesen war.
An der Tür wurde Andrea von einer wie eine Haushälterin gekleideten Frau um die fünfzig empfangen; ihr rotes Haar war grau meliert, ihr breites Gesicht sommersprossig. »Sie sind wohl Miss Bancroft«, fragte sie mit dem nicht sehr ausgeprägten Akzent einer Irin, die den größten Teil ihres Erwachsenenlebens in Amerika verbracht hat. Wahrscheinlich Nuala. »Der Gentleman kommt gleich herunter.« Sie musterte Andrea mit prüfendem Blick, der rasch anerkennend wurde. »Also, was darf ich Ihnen zu trinken bringen? Vielleicht eine kleine Stärkung?«
»Danke, ich brauche keine«, antwortete Andrea zögernd.
»Das freut mich. Wie wär’s dann mit einem leichten Sherry? Der Gentleman mag ihn ziemlich trocken, wenn Ihnen das zusagt. Nicht das klebrig-süße Zeug, mit dem ich aufgewachsen bin, das kann ich Ihnen sagen!«
»Klingt perfekt«, sagte Andrea. Das Hauspersonal eines Milliardärs sollte doch in höchstem Maße förmlich und steif sein, oder etwa nicht? Aber diese Irin war geradezu schwatzhaft, und das warf ein gutes Licht auf ihren Arbeitgeber. Paul Bancroft legte anscheinend keinen Wert auf steife Förmlichkeit. Er bestand nicht darauf, dass sein Personal auf Zehenspitzen ging. Es musste nicht darauf gefasst sein, streng zurechtgewiesen zu werden.
»Also ein Fino, kommt sofort«, sagte die Rothaarige. »Ich bin übrigens Nuala.«
Andrea schüttelte ihr lächelnd die Hand und fühlte sich bereits in diesem Haus willkommen.
Mit dem Sherryglas in der Hand sah sie sich die Drucke und Zeichnungen an, die in der dunkel getäfelten Diele und dem anschließenden Wohnzimmer hingen. Einige der Bilder und einige der Künstler kannte sie; andere, die ebenso gut waren, waren ihr unbekannt. Besonders faszinierte sie eine Federzeichnung, die einen
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