Die Bancroft Strategie: Roman (German Edition)
wechseln wollte. Sie musste unwillkürlich an ihren Kleiderschrank voller nachgemachter Designerklamotten, an ihre Sehnsüchte, an den Stolz denken, mit dem sie jeden Monat die Salden ihrer Kundenkarten erstellte. Das alles erschien ihr jetzt so absurd. Hätte sie den schützenden akademischen Bereich verlassen, wenn sie nicht mehr Geld hätte verdienen wollen?
Alle ihre Professoren hatten sie ermutigt; sie hatten erwartet, Andrea werde sich für eine akademische Laufbahn entscheiden und die Kompromisse schließen, die sie bereits geschlossen hatten. Unterdessen wurde ihr Studiendarlehen immer beschwerlicher; sie hatte das Gefühl, unter Rechnungen, die sie kaum bezahlen konnte, und Kreditkartenabrechnungen, die sie mit Mindestzahlungen von Monat zu Monat prolongierte, ersticken zu müssen. Vielleicht sehnte sie sich auf einer kaum bewussten Ebene auch nach einem Leben, in dem sie Speisekarten endlich nicht mehr von rechts nach links würde lesen müssen – nach dem Leben, das beinahe ihres gewesen war.
Einen Augenblick lang war sie seltsam durcheinander, als sie an all die »zweckmäßigen« Entscheidungen und weltlichen Zugeständnisse dachte, auf die sie sich eingelassen hatte – und wofür? Ihr Gehalt als Wertpapieranalystin war weit höher als das einer jungen Dozentin; trotzdem war es, das erkannte sie jetzt, eine Bagatelle. Durch ihre Gier nach herabgesetzter Ware hatte sie sich selbst herabgesetzt.
Als sie wieder aufsah, merkte sie, dass Paul Bancroft etwas gesagt haben musste.
»… deshalb weiß ich, wie es ist, jemanden zu verlieren. Für meinen Sohn und mich war der Tod meiner Frau ein schwerer Schlag. Eine schwierige Zeit.«
»Kann ich mir vorstellen«, murmelte Andrea.
»Vor allem war Alice zwanzig Jahre jünger als ich. Sie hätte mir einmal nachfolgen sollen. Auf meiner Beerdigung Schwarz tragen. Aber irgendwie hat sie bei einer teuflischen genetischen Lotterie das kürzere Hölzchen gezogen. Da wird einem klar, wie zerbrechlich das Leben ist. Unglaublich belastbar. Unglaublich zerbrechlich.«
»›Es kommt die Nacht, da niemand wirken kann‹, richtig?«
»Früher, als wir ahnen«, sagte er sanft. »Und die Arbeit ist nie abgeschlossen, nicht wahr?« Er nahm noch einen Schluck von
dem blass strohgelben Fino. »Entschuldige bitte, dass ich die Stimmung so runtergezogen habe. Diese Woche jährt sich ihr Todestag zum fünften Mal. Mein einziger Trost ist, dass sie mir etwas hinterlassen hat, das mir kostbarer ist als alles andere auf der Welt.«
Draußen polterten jugendliche Schritte die Treppe hinunter. Jemand nahm immer zwei Stufen auf einmal und die letzten drei im Sprung.
»Weil wir gerade von ihm reden …«, sagte Paul Bancroft. Er wandte sich dem Neuankömmling zu, der in dem bogenförmigen Durchgang zum Wohnzimmer stand. »Brandon, ich möchte dich Andrea Bancroft vorstellen.«
Ein blonder Lockenschopf war das Erste, was sie von ihm wahrnahm, dann die Apfelbäckchen des Jungen. Seine Augen leuchteten in einem klaren Blau, und er besaß die feinen, symmetrischen Gesichtszüge seines Vaters. Sie stellte fest, dass er ein ungewöhnlich gut aussehender, sogar schöner Junge war.
Er wandte sich ihr zu und lächelte strahlend. »Brandon«, sagte er, indem er ihr die Hand hinstreckte. »Freut mich, dich kennenzulernen.« Seine Stimme klang noch nicht erwachsen, trotzdem war sie tiefer als die eines Kindes. Ein bartloser Jüngling, wie die Alten gesagt hätten – aber mit deutlichem Flaum auf der Oberlippe. Noch kein Mann, jedoch kein Kind mehr.
Sein Händedruck war fest und trocken; er war ein bisschen schüchtern, aber nicht verlegen. Er lümmelte sich in den nächsten Sessel, ohne Andrea aus den Augen zu lassen. Dabei ließ er nichts von dem Unwillen erkennen, den Kinder in seinem Alter oft zeigten, wenn sie Gästen »vorgeführt« wurden. Stattdessen schien er ehrlich neugierig zu sein.
Sie war neugierig. Brandon trug ein blaues Plaidhemd, nicht in die Hose gesteckt, und graue Cargo Pants mit vielen Taschen und Reißverschlüssen. Ziemlich die Standardaufmachung für seine Altersklasse.
»Dein Vater hat vermutet, dass du mit unpassenden Leuten chattest«, sagte Andrea leichthin.
»Solomon Agronski hat mir den Arsch versohlt«, antwortete Brandon unbekümmert. »Wir haben DAGs ausgetauscht, und ich war völlig daneben. Bin mit keinem Bein auf die Erde gekommen.«
»Ist das eine Art Spiel?«
»Schön wär’s«, sagte Brandon. »DAGs, das sind Directed Acrylic Graphs. Ich
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