Die Bancroft Strategie: Roman (German Edition)
ist, dass niemand das genau weiß – bis auf ein paar Unglückliche, die allen Grund haben, sich zu wünschen, sie hätten ihn nie erblickt. ›Er‹ sage ich nur aus praktischen Erwägungen. Er hat überall seine Finger drin. Seine Helfershelfer sind ständig unter uns. Vielleicht sind sogar Sie einer.«
»Das verstehe ich nicht. Sie haben eine Heidenangst vor jemandem, den Sie überhaupt nicht kennen?«
»Wie andere Männer schon seit Jahrtausenden. Aber selten aus so guten Gründen. Der Prinz wird Ihnen sein Mitleid beweisen. Der Prinz wird Sie über die raue Wirklichkeit aufklären, Sie unwissender Naivling. Nennen Sie’s arabische Gastfreundschaft. Oder auch nicht. Aber behaupten Sie nie, ich hätte Sie nicht gewarnt. Manche Leute behaupten, Genesis sei eine Frau, die Tochter eines deutschen Industriellen, die sich in den Siebzigerjahren der RAF angeschlossen und später eine radikale Kehrtwende vorgenommen hat. Andere sagen, Genesis sei in Wirklichkeit ein Dirigent, der weltweit auftritt und zugleich bei Leuten, die keine Ahnung von seiner wahren Identität haben, heimlich auf Disziplin achtet. Von manchen ist zu hören, er sei ein Riese, während andere ihn buchstäblich als Zwerg schildern. Ich habe gehört, sie sei eine berückende Schönheit, und ich habe gehört, sie sei ein hässliches altes Weib. Genesis soll auf Korsika, Malta, Mauritius oder an allen möglichen Orten im Osten, Westen, Norden und Süden geboren sein. Manche behaupten, er stamme von Samurai ab und verbringe viel Zeit in einem Zen-Kloster. Andere sagen, er sei als Kind eines armen südafrikanischen Landarbeiters von einer reichen Burenfamilie adoptiert worden, deren Anteile an Diamantminen er geerbt habe. Wieder andere schildern ihn als Chinesen, als ehemaligen Vertrauten Dengs. Manche sagen, er sei Professor an der Londoner School of Oriental and African Studies, während andere …«
»Schluss mit diesem Gewäsch!«
»Ich möchte nur darauf hinweisen, dass es viele Gerüchte, aber keine bezeugten Wahrheiten gibt. Er herrscht über ein Schattenreich, das die Welt umspannt, aber er – oder sie, es – bleibt für uns so unsichtbar wie die Rückseite des Mondes.«
»Was zum Teufel …?«
»Diese Sache ist viel zu hoch für Sie. Vermutlich für uns beide. Aber ich bin mir dessen wenigstens bewusst.«
»Ich würde Sie ebenso gern umbringen wie auf Sie spucken, das wissen Sie, nicht wahr?«, knurrte Belknap.
»Klar, Sie könnten mich umbringen. Aber Genesis könnte mir noch Schlimmeres antun. Unvorstellbar viel Schlimmeres. Oh, was ich für Geschichten gehört habe! Um Genesis ranken sich zahlreiche Sagen, wissen Sie.«
»Lagerfeuergeschichten!«, wehrte Belknap verächtlich ab. »Auf Aberglauben basierende Gerüchte – von denen reden Sie doch?«
»Geschichten, die seit Langem die Runde machen. Gerüchte, wenn Sie so wollen – aber durchaus glaubwürdige Erzählungen. Lagerfeuergeschichten, sagen Sie? Genesis versteht sich auf gruselige Effekte. Ich will Ihnen von einem anderen Prinzen erzählen – von einem Angehörigen des saudischen Königshauses. Ein Agent von Genesis soll ihm einen Wunsch überbracht haben. Einen Wunsch von Genesis. Dieser Dummkopf war töricht genug, ihn abzulehnen. Er dachte, er könnte Genesis Paroli bieten.« Habib Almani schluckte schwer. Seine Stirn glänzte in dem durch Seide und Musselin einfallenden gedämpften Licht. Seine dicken Hände waren ineinander verschlungen. »Er war eine Woche lang verschwunden. Dann wurde er in Riad in einem Müllcontainer aufgefunden.«
»Tot.«
»Schlimmer«, sagte Almani. »Lebendig. Wie man hört, liegt er noch heute in einer Privatklinik in Riad. In genau dem Zustand, in dem er aufgefunden wurde.«Der Omaner beugte sich nach vorn, sprach mit erschrockenem Nachdruck weiter. »Als er gefunden wurde, war er vom Hals abwärts gelähmt, müssen Sie wissen – seine Rückenmarksnerven waren sorgfältig durchtrennt worden. Seine Zunge war von einem Chirurgen herausgeschnitten worden. Und dann war ein chronischer beidseitiger Blepharospasmus
ausgelöst worden, offenbar durch Injektion eines Nervengifts. Können Sie mir folgen? Seine Augen sind wegen eines Lidkrampfs ständig fest geschlossen. Also kann er sich nicht einmal durch Blinzeln verständigen!«
»Ansonsten war er unversehrt?«
»Das ist das wirklich Schlimme! Er lebt weiter, bei vollem Bewusstsein, vollständig gelähmt, in ein mitternächtliches Dasein eingesperrt, der eigene Körper als
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