Die Bank
unendliche siebeneinhalb Monate«, sagt Charlie. »Weißt du noch, was passiert ist, als Mom ihn das erste Mal mit zu uns brachte? Er war respektvoll und nett und hat sogar mit Erfolg meine Zuneigung erkauft, als er uns Hühnchen zum Abendessen mitgebracht hat. Aber in dem Moment, als ich ihm die Hühnchen aus den Fingern gerissen habe, haßte ich ihn. Ich haßte sein ständiges Kämmen, ich haßte seine Designerschuhe. Solange sie sich trafen, haßte ich diesen Mann wie Gift. Und weißt du was? Ich hatte recht.«
Ich stelle mich neben ihn an die Spüle, schöpfe Wasser in die Hände und wasche mein Gesicht. Wir kämpfen kurz um den Platz, aber dann weicht Charlie mir aus und stürmt zur Matratze zurück. Ich hetze hinter ihm her. »Aber wenn du die wirkliche Geschichte wissen willst … Während du dich mit deiner Gitarre beschäftigt hast …«
»Es ist ein Baß.«
»Während du also deinen Baß gestimmt und in Fantasyland gelebt hast, hat mir genau dieser Ernie Dellacosta den Job bei Moe Ginsburg während meines erstens Semesters besorgt. Wenn er nicht gewesen wäre, hätte ich nie das Geld gehabt, die Gebühren der New York University zu bezahlen.«
»Weißt du, das mit diesem Verkaufsjob habe ich vollkommen vergessen. Du hast recht, er war eine Inspiration für uns alle.« Die Stimme meines Bruders trieft vor Sarkasmus.
»Was willst du damit sagen?«
»Nichts. Vergiß es.«
»O nein … Spiel nicht deine Spielchen mit mir. Sag mir, was du denkst.«
Charlie antwortet nicht, was bedeutet, daß er etwas zurückhält. »Laß es einfach auf sich beruhen«, meint er schließlich.
»Auf sich beruhen lassen? Dabei warst du doch so nah daran, deinen ungeheuer wichtigen Punkt zu machen. Komm schon, Charlie, du hast doch offensichtlich Dellacosta aus einem ganz bestimmten Grund erwähnt. Also, was ist das Problem? Daß ich mich bei ihm eingeschmeichelt habe, damit er mir half, einen Job zu bekommen? Daß ich über seine blöden Witze gelacht habe? Daß ich mich wie alle anderen der arbeitenden Klasse von Amerika benommen und mir den Arsch aufgerissen habe, damit wir die Gläubiger bezahlen konnte, die zu Hause vorbeigekommen sind? Sag mir, was dir über die Leber gelaufen ist!«
»Du bist mir über die Leber gelaufen! Du und deine selbstgefällige Mitleidstour!« brüllt Charlie. »Es geht hier nicht nur um dich, Oliver, und wenn du endlich einmal kurz innehalten und das begreifen würdest, würdest du vielleicht auch die Dinge bemerken, die unter deinem eigenen verdammten Dach vorgehen!«
»Was meinst du damit?«
»Der Kerl war ein Arschloch, Ollie. Hast du dich nie gefragt, warum Mom so lange mit ihm ausgegangen ist?«
»Was willst du damit sagen?«
»Wußtest du nicht, daß sie Angst hatte, du würdest deinen Job verlieren? Daß sie ihn schon nach zwei Monaten haßte, aber Angst hatte, daß du ohne den Scheck das Semester nicht schaffen würdest? Du kannst deine Vergangenheit unter soviel Dokumente begraben, wie du willst, aber zu Hause mußte Mom mit den Mißhandlungen leben.«
Ich bin vollkommen verwirrt. »Was soll das heißen – Mißhandlungen? Hat er sie geschlagen?«
»Das hat sie nie gesagt, aber ich habe ihre Streitereien gehört. Du weißt ja, wie dünn unsere Wände sind.«
»Das habe ich nicht gefragt. Hast du gesehen, wie er sie geschlagen hat?«
Diesmal wehrt Charlie sich nicht. »Ich kam rein, als sie in der Küche waren«, sagt er. »Sie weinte, und er benutzte einen Ton, der hitziger war als alles, was du deiner Mutter zumuten würdest. Er drehte sich herum, um zu sehen, ob ich weglaufen wollte. Ich sagte ihm, wenn er nicht auf der Stelle verschwinden würde, dann würde ich ihm den Hals umdrehen. Mom weinte noch mehr, aber sie konnte ihn nicht davon abhalten zu gehen. Wir haben ihn nie wiedergesehen. Das war dein Kumpel Mr. Dellacosta.«
Mein Kinn zittert, während ich Charlie ansehe, als hätte ich ihn noch nie zuvor gesehen. Und da dachte ich die ganze Zeit, ich hätte den harten Teil erwischt. Die ganze Zeit habe ich mich geirrt. »Charlie, ich wußte nicht …«
»Sag es bloß nicht«, warnte er mich. Er hat keine Lust zuzuhören. Er hüpft ins Bett und zieht sich die schäbige Decke über den Kopf, die wir im Schrank gefunden haben. Der Zigarettengestank muß schlimmer sein als der Geruch des Desinfektionssprays, aber für Charlie ist er eindeutig noch viel besser, als sich mit mir abzugeben. »Vergiß nicht, was ich über Gillian gesagt habe«, ruft er unter der Decke.
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