Die Befreier von Canea
»Vieles. Aber ich bin mir nicht sicher, was ich davon zu halten habe.« Er zeigte auf den ersten Tisch, wo eine Reihe kleiner schwarzer und weißer Steine die Vord und die Canim-Truppen darstellten. Sie waren überall auf dem Tisch verteilt. »Narash, Vargs Gebiet. Das wurde zuerst angegriffen. Die Berichte von dort sind verwirrend und widersprechen sich.«
Kitai sah ihn scharf an. »Das ist Absicht.«
Tavi nickte. »Ich glaube, die Vord haben mehrere verschiedene Nester gebaut und sich ruhig verhalten so lange es ging, bis sie gleichzeitig angreifen und so viel Schaden und Verwirrung wie möglich anrichten konnten. Soweit ich sagen kann, glaubten die meisten Befehlshaber in Narash zunächst, sie würden von ihren Nachbarn angegriffen. Als sie die Wahrheit erkannt haben, war es zu spät.«
Er deutete auf den nächsten Tisch. »Kadan, Rengal, Irgat … Alle fielen im Laufe des nächsten Jahres.«
Er atmete tief aus, um einen Schauder zu unterdrücken. Jedes Volk der Canim war fast so groß gewesen wie Alera, wenn es auch in einem weitaus kleineren Gebiet gewohnt hatte. Trotz der Armeen und der dunklen Mächte ihrer Ritualisten waren die wilden, kriegerischen Canim so unaufhaltsam niedergemäht worden wie ein Weizenfeld von der Sense eines Bauern.
Tavi deutete mit dem Kopf auf den nächsten Tisch. »Maraul. Die dortigen Canim haben sich fast ein Jahr lang halten können. Dann jedoch waren sie von Shuar abgeschnitten und umzingelt. Schließlich …« Tavi zuckte mit den Schultern. »Shuar ist das einzige Gebiet, das noch geblieben ist.«
»Wonach suchst du?«, fragte Kitai.
Er zuckte die Schultern. »Ich weiß es noch nicht. Nach Mustern. Ich versuche zu begreifen, wie sie denken, wie sie vorgehen.«
»Die Vord?«, wollte Kitai wissen. »Oder die Canim?«
Tavi lächelte kurz. »Ja«, antwortete er. Das Lächeln verblasste. »Allerdings wäre ich im Augenblick regelrecht begeistert von dem Gedanken, mir auf lange Sicht nur Sorgen um die Canim machen zu müssen.«
Kitai sah ihn ernst an. »Crassus sagt, im eigentlichen Gebiet von Shuar hätten sich bereits achtzig- oder neunzigtausend Vord versammelt.«
Tavi runzelte die Stirn. Achtzig- oder neunzigtausend. Gegen so viele Vord in offenem Gelände anzutreten wäre für die aleranischen Legionen gleichbedeutend mit Selbstmord. Ihre einzige Chance bestand darin, an der Seite von Nasaugs Truppen zu kämpfen, und diese Aussicht schien bei seinen Männern nicht so gut anzukommen. Nach zwei Jahren Krieg hatten beide Seiten nicht gerade viel füreinander übrig.
Einen Moment lang, während er auf die Sandtische starrte und die riesigen Zahlen schwarzer Steine betrachtete, denen nur vergleichsweise wenige weiße gegenüberstanden, fühlte sich Tavi völlig verloren. Noch vor einigen Jahren war er nur ein kleiner Hirte gewesen. Nein, nicht einmal das. Sein Onkel war der Hirte gewesen. Tavi hatte als Lehrling bei ihm gelernt.
Oh, natürlich besaß er jetzt einen Titel: Seine Fürstliche Hoheit, Gaius Octavian, Princeps des Reiches und Thronfolger von Alera.
Am Ende half ihm das jedoch nicht viel weiter.
Wie sollte er in dieser Lage handeln? Auf welche Weise sollte er die Entscheidungen treffen, die vor ihm lagen – Entscheidungen, die für viele Aleraner und Canim den Tod bedeuten würden? War es nicht fürchterlich arrogant, wenn er sich einbildete, der Beste zu sein, um eine Wahl zu treffen? Oder war er einer stillen Art von Wahnsinn verfallen?
Kitai strich ihm mit ihrer schlanken warmen Hand über den Nacken, und er blickte ihr in die Augen.
»Ich weiß nicht, ob ich das schaffe.« Er flüsterte es beinahe.
Sie starrte ihn an. »Du musst es schaffen«, antwortete sie, genauso leise. »Die Vord werden sich mit Canea nicht zufrieden geben.«
»Ja, das stimmt«, sagte Tavi. »Aber … ich kann nicht einmal einen Elementar manifestieren, Kitai. Wie soll ich dann aufhalten, was wir dort draußen gesehen haben?«
»Aleraner, wann hat es dich je von etwas abgehalten, dass du keinen Elementar manifestieren kannst?«
»Diesmal ist es anders«, erwiderte er. »Es ist größer. Komplizierter. Wenn man die Vord nicht aufhält …« Er schüttelte den Kopf. »Das wäre das Ende. Von allem. Das Ende der Canim. Das Ende meines Volkes und deines. Nichts würde überleben.«
Er spürte, wie Kitai ihn am Kinn berührte und seinen Kopf hob. Sie drehte ihn fest zu sich, beugte sich vor und küsste ihn auf die Lippen. Es war ein langer, langsamer und nachdrücklicher
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