Die Begnadigung
Marco. Meine Freundin ist gestürzt.
»Wo ist sie?«, fragte der Mann in hervorragendem Englisch. Sie liefen durch einen kleinen, gepflasterten Innenhof und wichen kleinen Schneehäufchen aus, die noch nicht geschmolzen waren.
»Hinter der Kirche, am Aussichtspunkt. Sie hat sich am Knöchel verletzt und glaubt, er ist gebrochen. Wir brauchen vielleicht einen Krankenwagen.«
Der Mann rief dem Mesner etwas zu, der sich daraufhin umdrehte und davoneilte.
Francesca saß auf der Kante der Bank und versuchte, Haltung zu bewahren. Das Taschentuch hielt sie an den Mund gepresst, die Tränen hatten aufgehört zu fließen. Der Mann sprach sie nicht mit ihrem Namen an, aber er hatte sie offenbar schon in San Luca gesehen. Sie unterhielten sich auf Italienisch, und Marco verstand so gut wie nichts.
Sie hatte den linken Stiefel immer noch an, und alle waren der Meinung, es sei besser, ihn nicht auszuziehen, um ein Anschwellen des Knöchels zu verhindern. Der Mann, Signor Coletta, schien etwas von Erster Hilfe zu verstehen. Er untersuchte Francescas Knie und Hände. Sie waren aufgeschürft und wund, bluteten aber nicht.
»Der Knöchel ist nur verstaucht«, sagte sie. »Ich glaube nicht, dass etwas gebrochen ist.«
»Es würde ewig dauern, bis ein Krankenwagen kommt«, meinte Signor Coletta. »Ich fahre Sie ins Krankenhaus.«
Ganz in der Nähe hupte ein Auto. Der Mesner hatte einen Wagen geholt und ihn so nah wie möglich herangefahren.
»Ich glaube, ich kann allein gehen«, sagte Francesca tapfer, während sie versuchte aufzustehen.
»Nein, nein, wir werden Ihnen helfen«, widersprach Marco. Er und Signor Coletta fassten sie am Ellbogen und zogen sie langsam hoch. Als sie ihren Fuß belastete, verzog sie das Gesicht, versicherte aber: »Er ist nicht gebrochen. Nur verstaucht.« Sie bestand darauf, zum Wagen zu gehen. Trotzdem trugen sie die beiden halb.
Signor Coletta übernahm das Kommando und verfrachtete Marco und Francesca nach hinten ins Auto, wo Francesca ihre Beine auf Marcos Schoß legte und sich mit dem Rücken an die linke Tür lehnte. Dann setzte sich Signor Coletta ans Steuer und legte den Gang ein. Sie rollten rückwärts über einen von Büschen gesäumten Kiesweg, bis sie eine enge, geteerte Straße erreicht hatten. Kurz darauf fuhren sie den Hügel hinunter nach Bologna.
Francesca setzte ihre Sonnenbrille auf, um ihre Augen zu verdecken. Marco bemerkte, dass ihr linkes Knie blutete. Er nahm ihr das Taschentuch aus der Hand und betupfte damit die Wunde. »Danke«, flüsterte sie. »Es tut mir Leid, dass ich Ihnen den Tag verdorben habe.«
»Jetzt hören Sie schon auf damit«, sagte er mit einem Lächeln.
Genau genommen war es der schönste Tag gewesen, den er bis jetzt mit Francesca verbracht hatte. Der Sturz hatte sie gedemütigt und ließ sie menschlich wirken. Er brachte Gefühle zum Vorschein, obwohl sie das gar nicht wollte. Und er machte es möglich, dass Marco sie berührte, dass er ihr zu helfen versuchte. Der Sturz hatte ihn in ihr Leben gedrängt. Was auch immer als Nächstes geschah, ob im Krankenhaus oder bei ihr zu Hause, er würde zumindest für einen Moment in ihrem Leben sein. Sie war in einer Notlage und brauchte ihn, obwohl sie es ganz gewiss nicht wollte.
Während er ihre Beine hielt und aus dem Fenster starrte, wurde ihm klar, wie sehr er sich nach einer Beziehung sehnte. Irgendeiner, mit irgendjemandem.
Er brauchte einen Freund. Oder eine Freundin.
»Ich möchte in meine Wohnung«, sagte Francesca zu Signor Coletta, als sie am Fuß des Hügels waren.
Er sah in den Rückspiegel. »Ich glaube, Sie sollten zum Arzt.«
»Vielleicht später. Ich werde mich eine Weile ausruhen und sehen, wie es mir dann geht.« Die Entscheidung war getroffen; es war sinnlos, darüber zu streiten.
Marco hätte ebenfalls etwas dazu zu sagen gehabt, aber er schwieg. Er wollte wissen, wo sie wohnte.
»Wenn Sie darauf bestehen«, sagte Signor Coletta.
»Ich wohne in der Via Don Giovanni Minzoni, in der Nähe vom Bahnhof.«
Marco musste insgeheim lächeln, weil er stolz darauf war, dass er die Straße kannte. Er sah sie auf dem Stadtplan vor sich, am nördlichen Rand der Altstadt, eine gute Gegend, aber nicht das Nobelviertel. Er war mindestens einmal durch diese Straße gegangen. Dort, wo sie an der Piazza dei Martiri endete, hatte er ein Café entdeckt, das schon sehr früh am Morgen öffnete. Während sie im Nachmittagsverkehr durch die Randbezirke fuhren, sah er sich jedes Straßenschild an,
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