Die Begnadigung
ab, dass keinem Unbeteiligten etwas auffallen würde. Nach der Arbeit trat Helen Wang in einen großen Supermarkt in Bethesda. Sie ging bis zum Ende von Gang zwölf, wo ein Regal mit Zeitschriften und Zeitungen stand. Ihr Kontaktmann wartete bereits mit dem Lacrosse Magazine in der Hand auf sie. Helen nahm ein Exemplar der gleichen Zeitschrift aus dem Regal und steckte einen Umschlag hinein. Dann blätterte sie eine Weile überzeugend gelangweilt darin herum und legte die Zeitschrift ins Regal zurück. Ihr Kontaktmann sah sich eine Sportzeitschrift nach der anderen an. Nachdem sich Helen vergewisserte hatte, dass er das Lacrosse Magazine an sich genommen hatte, in das sie den Umschlag gesteckt hatte, verließ sie den Supermarkt.
Die üblichen Vorkehrungen waren dieses Mal gar nicht notwendig. Helens Freunde von der CIA sahen nicht zu, weil sie die Übergabe arrangiert hatten. Und ihren Kontaktmann kannten sie schon seit Jahren.
Der Umschlag enthielt nur ein Blatt Papier – die Farbkopie eines Fotos von Joel Backman, der offenbar eine Straße hinunterging. Er war viel dünner als früher und ließ sich gerade einen grauen Kinnbart wachsen. Mit einer modischen Brille und europäisch aussehender Kleidung wirkte er wie ein Einheimischer. Unten auf dem Blatt war mit der Hand hingeschrieben worden: Joel Backman, Via Fondazza, Bologna, Italien. Der Kontaktmann starrte das Foto an, während er sich in sein Auto setzte. Dann gab er Gas und fuhr zur Botschaft der Volksrepublik China in Washingtons Wisconsin Avenue.
Die Russen schienen zuerst kein Interesse am Aufenthaltsort von Joel Backman zu haben. Ihre Reaktion wurde in Langley sehr unterschiedlich bewertet. Allerdings wurden keine vorzeitigen Schlussfolgerungen gezogen, ganz einfach deshalb, weil keine möglich waren. Jahrelang hatten die Russen unter der Hand angedeutet, das so genannte »Neptun«-System gehöre ihnen, was bei der CIA für erhebliche Verwirrung gesorgt hatte.
Zur Überraschung sämtlicher Geheimdienste hatten es die Russen tatsächlich fertig gebracht, um die hundertsechzig Aufklärungssatelliten in einer Umlaufbahn zu halten, was in etwa der Anzahl der Satelliten in der ehemaligen Sowjetunion entsprach. Damit gehörte Russland im Weltraum nach wie vor zu den führenden Nationen, ganz im Gegensatz zu dem, was Pentagon und CIA vorausgesagt hatten.
1999 informierte ein Überläufer vom GRU – dem militärischen Geheimdienst Russlands, Nachfolger des KGB – die CIA, dass »Neptun« nicht den Russen gehöre. Sie seien genauso überrumpelt worden wie die Amerikaner. Jetzt richtete sich der Verdacht auf die Chinesen, die in der Satellitentechnologie weit hinten lagen.
Aber vielleicht lagen sie ja gar nicht so weit zurück.
Die Russen hatten Interesse an »Neptun«, aber sie waren nicht bereit, für Informationen über Backman zu bezahlen. Nachdem man die Angebote aus Langley zum größten Teil ignoriert hatte, wurde das Farbfoto, das man den Chinesen verkauft hatte, als Anhang einer anonymen E-Mail an vier russische Geheimdienstchefs geschickt, die, als Diplomaten getarnt, in Europa tätig waren.
Um die Saudis kümmerte sich Taggett, ein leitender Angestellter einer amerikanischen Ölfirma in Riad, der schon seit mehr als zwanzig Jahren dort lebte. Er sprach fließend Arabisch und verfügte wie alle Ausländer über beste Kontakte in den gesellschaftlichen Kreisen Riads. Eine besonders enge Freundschaft pflegte er mit einem hoch gestellten Beamten des saudischen Außenministeriums, und bei einem späten Nachmittagstee erwähnte er, dass sein Unternehmen früher einmal von Joel Backman vertreten worden sei. Außerdem behauptete er zu wissen, wo Backman sich versteckt halte.
Fünf Stunden später wurde Taggett von der Türglocke aus dem Schlaf gerissen. Drei junge Herren in dunklen Anzügen stürmten in die Wohnung und forderten einige Minuten seiner Zeit. Sie entschuldigten sich für die späte Störung und erklärten, dass sie für einen speziellen Zweig der saudischen Polizei arbeiteten und sich dringend mit ihm unterhalten müssten. Nachdem man ihn ein wenig unter Druck gesetzt hatte, gab Taggett mit gebührendem Zögern die Informationen weiter, die er ihnen zuspielen sollte.
Joel Backman verstecke sich in Italien, in Bologna, unter einem anderen Namen. Das sei alles, was er wisse.
Wäre es eventuell möglich, mehr herauszufinden?, fragten sie.
Vielleicht.
Dann fragten sie, ob er am nächsten Morgen abreisen könne, um am Firmensitz
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