Die Begnadigung
möchte ich nicht sprechen.«
»Sie haben aber damit angefangen.«
Sie zog an ihrer Zigarette. »Also gut. Warum hatten Sie seit sechs Jahren keinen Sex mehr?«
»Weil ich im Gefängnis war, in Einzelhaft.«
Sie zuckte leicht zusammen und schien noch etwas aufrechter zu stehen als sonst. »Haben Sie jemanden getötet?«
»Nein, nein, nichts dergleichen. Ich bin ziemlich harmlos.«
Wieder eine Pause, wieder ein Zug an der Zigarette.
»Warum sind Sie hier?«
»Ich habe keine Ahnung.«
»Wie lange werden Sie bleiben?«
»Das kann vielleicht Luigi beantworten.«
»Luigi.« In ihrer Stimme schwang Verachtung. Sie drehte sich um und ging weiter. Er folgte ihr. »Wovor verstecken Sie sich?«, wollte sie wissen.
»Das ist eine sehr, sehr lange Geschichte, die ich Ihnen besser nicht erzähle.«
»Sind Sie in Gefahr?«
»Ich glaube schon. Ich weiß nicht, wie ernst die Lage ist. Vielleicht sollte man es so sagen: Ich habe Angst, meinen richtigen Namen zu benutzen und nach Hause zu gehen.«
»Das hört sich für mich aber schon so an, als wären Sie in Gefahr. Und was hat Luigi mit Ihnen zu tun?«
»Ich glaube, er beschützt mich.«
»Wie lange noch?«
»Keine Ahnung.«
»Warum verschwinden Sie nicht einfach?«
»Das tue ich doch gerade. Ich bin dabei zu verschwinden. Aber wohin sollte ich von hier aus gehen? Ich habe kein Geld, keinen Pass, keinen Ausweis. Offiziell gibt es mich gar nicht.«
»Das ist alles sehr verwirrend.«
»Ja. Wir sollten von etwas anderem sprechen.«
Er sah kurz in die andere Richtung und bekam deshalb nicht mit, wie sie stürzte. Francesca trug schwarze Lederstiefel mit niedrigen Absätzen und knickte wegen eines Steins auf dem schmalen Weg mit dem linken Fuß um. Sie verlor das Gleichgewicht, fing den Sturz aber in letzter Sekunde mit den Händen ab. Ihre Handtasche fiel zu Boden. Francesca schrie etwas auf Italienisch. Marco ging rasch in die Knie und griff nach ihr.
»Mein Knöchel«, stöhnte sie. Tränen standen in ihren Augen, und ihr schönes Gesicht war schmerzverzerrt.
Behutsam hob er sie von dem nassen Weg auf und trug sie zu der Bank in der Nähe. Dann holte er ihre Handtasche. »Ich bin gestolpert«, sagte sie immer wieder. »Es tut mir Leid.« Sie kämpfte gegen die Tränen an, konnte sie dann aber nicht mehr zurückhalten.
»Ist ja gut, ist ja gut«, murmelte Marco beruhigend. Er kniete sich vor sie. »Kann ich den Fuß anfassen?«
Sie hob langsam das linke Bein, aber die Schmerzen waren zu stark.
»Den Stiefel lassen wir besser an«, sagte Marco, während er vorsichtig ihren Knöchel betastete.
»Ich glaube, er ist gebrochen«, murmelte Francesca. Sie zog ein Taschentuch aus der Handtasche und trocknete ihre Tränen. Schwer atmend, biss sie die Zähne zusammen. »Es tut mir Leid.«
»Das braucht Ihnen doch nicht Leid zu tun.« Marco sah sich um. Sie waren die Einzigen hier oben. Der Bus nach San Luca war so gut wie leer gewesen, und seit zehn Minuten hatten sie niemanden mehr gesehen. »Ich gehe in die Kirche und hole Hilfe.«
»Ja, bitte.«
»Nicht bewegen. Ich bin gleich wieder da.« Er tätschelte ihr das Knie, und sie zwang sich zu einem Lächeln. Dann lief er davon und wäre dabei fast selbst gestürzt. Er rannte zum hinteren Teil der Kirche, sah aber niemanden. Wo, bitte schön, ist in einer Wallfahrtskirche das Büro? Wo finde ich den Küster, den Verwalter, den Priester? Wer ist hier der Chef? Er rannte zweimal um San Luca herum, bis er einen Mesner sah, der aus einer halb verborgenen Tür am Park herauskam.
» Mi può aiutare? « , rief er.
Der Mesner starrte ihn an, antwortete aber nicht. Marco war sicher, dass er laut und deutlich gesprochen hatte. Er ging noch ein Stück auf ihn zu und sagte: » La mia amica si è fatta male. « Meine Freundin hat sich verletzt.
» Dov’è? « , grunzte der Mann. Wo ist sie?
Marco wies hinter sich. » Lì, dietro la chiesa. « Da drüben, hinter der Kirche.
» Aspetti. « Warten Sie. Der Mann drehte sich um, ging zurück zur Tür und öffnete sie.
» Sì sbrighi, per favore. « Bitte beeilen Sie sich.
Eine oder zwei unerträglich lange Minuten vergingen, und Marco wartete nervös, obwohl er am liebsten zurückgelaufen wäre, um nach Francesca zu sehen. Wenn sie sich etwas gebrochen hatte, konnte der Schock ganz plötzlich einsetzen. Schließlich öffnete sich eine größere Tür unterhalb der Taufkapelle, und ein Mann in einem Anzug eilte heraus, gefolgt vom Mesner.
» La mia amica è caduta « , sagte
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