Die Begnadigung
Luigi ist für gewöhnlich sehr gut informiert. Er beobachtet mich. Ich werde ihn morgen anrufen und so tun, als wäre ich krank. Dann überlegen wir uns etwas für übermorgen. Vielleicht könnten wir den Unterricht hier machen.«
»Das geht nicht. Mein Mann ist hier.«
Marco warf unwillkürlich einen Blick über die Schulter. »Hier?«
»Im Schlafzimmer. Er ist sehr krank.«
»Was …«
»Krebs. Im Endstadium. Meine Mutter bleibt bei ihm, wenn ich arbeite. Jeden Nachmittag kommt eine Krankenschwester, um ihm seine Medikamente zu geben.«
»Das tut mir Leid.«
»Mir auch.«
»Machen Sie sich keine Sorgen wegen Luigi. Ich werde ihm sagen, dass ich von Ihrer Unterrichtsmethode begeistert bin und mich weigere, bei jemand anders Italienisch zu lernen.«
»Das wäre aber eine Lüge, nicht wahr?«
»Irgendwie schon.«
Signora Altonelli kam mit einem Tablett aus der Küche, auf dem Espressotassen und ein Schokoladenkuchen standen. Sie stellte es auf einen leuchtend roten Beistelltisch mitten im Wohnzimmer und schnitt den Kuchen an. Francesca nahm sich Kaffee, wollte aber nichts essen. Marco aß so langsam wie möglich und nippte an seiner kleinen Tasse, als wäre es der letzte Espresso seines Lebens. Als Signora Altonelli auf einem zweiten Stück Kuchen bestand, ließ er sich nur zu gern überreden.
Er blieb etwa eine Stunde. Als er im Fahrstuhl nach unten fuhr, wurde ihm klar, dass er die ganze Zeit über keinen Ton von Giovanni Ferro gehört hatte.
23
D er zivile Nachrichtendienst Chinas, das Ministerium für Staatssicherheit oder kurz MSS, setzte kleine, speziell ausgebildete Einheiten ein, um weltweit Liquidierungen durchzuführen, und ging insofern ähnlich wie die Russen, Israelis, Briten und Amerikaner vor.
Ein wesentlicher Unterschied zur Vorgehensweise dieser Geheimdienste war jedoch die Tatsache, dass die Chinesen inzwischen fast ausschließlich mit einer einzigen Einheit arbeiteten. Anstatt die schmutzige Arbeit wie die anderen Länder auf verschiedene Teams zu verteilen, wandte sich das MSS zuerst an einen jungen Mann, den CIA und Mossad schon seit mehreren Jahren mit wachsender Bewunderung beobachteten. Er hieß Sammy Tin und war der Sohn zweier chinesischer Diplomaten, die angeblich vom MSS ausgewählt worden waren, um zu heiraten und Nachwuchs zu produzieren. Wenn es je einen perfekt geklonten Agenten gegeben hatte, war das Sammy Tin. Er war in New York geboren worden und in einem Vorort von Washington aufgewachsen. Sobald er laufen konnte, unterrichteten Privatlehrer ihn in Fremdsprachen. Mit sechzehn begann er ein Studium an der Universität von Maryland, das er mit einundzwanzig und zwei akademischen Graden abschloss. Dann studierte er Maschinenbau in Hamburg. Irgendwann suchte er sich Bombenbauen als Hobby aus. Sprengstoffe wurden für ihn zur Leidenschaft, und er spezialisierte sich auf kontrollierte Explosionen aus allen möglichen Behältern – Umschläge, Papierbecher, Kugelschreiber, Zigarettenpackungen. Er war ein ausgezeichneter Schütze, aber Schusswaffen waren ihm zu einfach. Sie langweilten ihn. Sammy Tin liebte seine Bomben.
Später studierte er unter falschem Namen Chemie in Tokio und erlernte die Kunst und Wissenschaft der Giftmischerei. Als er vierundzwanzig war, hatte er ein Dutzend verschiedene Namen, beherrschte in etwa so viele Fremdsprachen und überquerte mit einem gewaltigen Repertoire an Pässen und Identitäten mühelos sämtliche Grenzen der Welt. Er konnte jeden beliebigen Zollbeamten davon überzeugen, dass er Japaner, Koreaner oder Taiwanese war.
Um seine Ausbildung abzurunden, absolvierte er bei einer Eliteeinheit der chinesischen Armee ein äußerst strapaziöses Training, das ein volles Jahr dauerte. Er lernte, wie man in der Einöde ein Lager baute, über offenem Feuer kochte, reißende Flüsse überquerte, auf dem Meer überlebte und sich tagelang im Dschungel verbarg. Als er sechsundzwanzig wurde, war das MSS der Meinung, dass der Junge genug gelernt hatte. Es war Zeit, mit dem Töten zu beginnen.
Soweit Langley das beurteilen konnte, begann die erstaunliche Karriere Sammy Tins mit der Liquidierung von drei chinesischen Wissenschaftlern, die auf allzu vertrautem Fuß mit den Russen standen. Er eliminierte sie beim Abendessen in einem Moskauer Restaurant. Während die Leibwächter draußen vor der Tür warteten, wurde dem Ersten die Kehle durchgeschnitten, als er am Urinal stand. Seine Leiche, die in eine ziemlich kleine Mülltonne gestopft worden war,
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