Die Begnadigung
merkte sich jede Kreuzung und wusste immer ganz genau, wo sie gerade waren.
Es war still im Auto. Marco hielt Francescas Beine, während ihre modischen, aber schon etwas abgenutzten schwarzen Stiefel seine Wollhose schmutzig machten, was ihm in diesem Moment völlig egal war. Als sie in die Via Don Giovanni Minzoni einbogen, sagte sie: »Zwei Querstraßen weiter, auf der rechten Seite.« Und kurz darauf: »Da vorn. Hinter dem grünen BMW ist ein Parkplatz frei.«
Sie halfen ihr vorsichtig aus dem Auto und stützten sie bis zum Gehsteig, wo sie sich losmachte und allein zu gehen versuchte. Doch kaum hatte sie einen Schritt gemacht, gab ihr Knöchel nach, und sie fingen sie auf. »Ich wohne im ersten Stock«, stieß sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. In dem Haus gab es acht Wohnungen. Marco sah genau hin, als sie auf den Knopf neben dem Namen »Giovanni Ferro« drückte. Eine weibliche Stimme antwortete.
»Francesca«, sagte sie. Die Tür schnarrte. Sie betraten ein dunkles, schäbig wirkendes Foyer. Rechts von ihnen wartete ein Fahrstuhl mit geöffneter Tür. Die drei passten gerade hinein. »Mir geht es gut. Wirklich«, sagte sie in dem vergeblichen Versuch, Marco und Signor Coletta loszuwerden.
»Sie müssen Eis auf den Knöchel legen«, riet Marco, während sie langsam nach oben fuhren.
Nachdem der Fahrstuhl geräuschvoll angehalten hatte und die Tür aufgegangen war, schoben sie sich in kleinen Schritten hinaus, während die beiden Männer Francesca unter den Ellbogen stützten. Bis zu ihrer Wohnung waren es nur ein paar Meter. Als sie vor der Tür standen, war das Signor Coletta offenbar weit genug.
»Es tut mir sehr Leid wegen Ihres Unfalls«, sagte er.
»Rufen Sie mich bitte an, wenn Ihnen Kosten für einen Arzt entstehen.«
»Nein, auf keinen Fall. Sie sind wirklich sehr nett gewesen. Ich danke Ihnen vielmals.«
»Vielen Dank«, sagte auch Marco, der Francesca immer noch hielt. Er läutete an der Tür und wartete, während Signor Coletta zum Fahrstuhl zurückging.
Francesca löste sich von ihm und sagte: »Schon gut, Marco. Den Rest schaffe ich allein. Meine Mutter ist heute da.«
Er hoffte darauf, dass sie ihn in die Wohnung bat, konnte sie aber nicht drängen. Sein Part war zu Ende, er hatte getan, was er konnte, und dabei sehr viel mehr erfahren als erwartet. Er lächelte, ließ ihren Arm los und wollte sich gerade verabschieden, als auf der Innenseite ein Schloss klickte. Francesca drehte sich zur Tür und belastete dabei ihren verletzten Knöchel. Er gab wieder nach, und sie schrie auf und suchte bei Marco nach Halt.
Die Tür öffnete sich in dem Moment, als Francesca ohnmächtig wurde.
Ihre Mutter, Signora Altonelli, war eine alte Dame in den Siebzigern, sprach kein Wort Englisch und glaubte in den ersten hektischen Minuten, Marco hätte ihrer Tochter etwas angetan. Sein stümperhaftes Italienisch erwies sich als völlig unzureichend, ihr das Gegenteil zu beweisen, insbesondere in einer solchen Situation. Er trug Francesca zum Sofa, legte ihre Beine hoch und schaffte es, ihrer Mutter zu verdeutlichen, dass sie » Ghiaccio, ghiaccio « brauchten, Eis. Signora Altonelli wich zögernd zurück und verschwand schließlich in der Küche.
Francesca schlug gerade die Augen auf, als ihre Mutter mit einem nassen Waschlappen und einer kleinen Plastiktüte mit Eiswürfeln zurückkam.
»Sie sind ohnmächtig geworden«, sagte Marco, der sich über sie beugte. Sie griff nach seiner Hand und sah sich verwirrt um.
» Chi è? « , fragte ihre Mutter misstrauisch. Wer ist das?
» Un amico. « Marco strich mit dem Waschlappen über ihr Gesicht, und sie erholte sich rasch. Im schnellsten Italienisch, das er je gehört hatte, erklärte sie ihrer Mutter, was passiert war. Ihm wurde ganz schwindlig, als er versuchte, im Stakkato der hin- und herfliegenden Sätze wenigstens ein Wort zu verstehen. Schließlich gab er auf. Plötzlich fing Signora Altonelli zu lächeln an und klopfte ihm anerkennend auf die Schulter. Guter Junge.
Als sie erneut in der Küche verschwand, sagte Francesca: »Sie macht uns Kaffee.«
»Großartig.« Er hatte einen kleinen Hocker neben das Sofa gezogen und saß abwartend da. »Wir sollten Eis auf den Knöchel legen«, sagte er schließlich.
»Ja, das wäre sicher besser.«
Sie musterten beide ihre Stiefel. »Würden Sie mir die Schuhe ausziehen?«, fragte sie.
»Aber natürlich.« Er öffnete den Reißverschluss des rechten Stiefels und zog ihn ihr so behutsam aus,
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