Die Begnadigung
fand man erst nach einer Stunde. Der Zweite beging den Fehler, sich Sorgen um den Ersten zu machen. Er betrat die Toilette, in der der als Hausmeister verkleidete Sammy Tin schon auf ihn wartete. Als man den Toten entdeckte, hing er mit dem Kopf in einer verstopften Toilettenschüssel, in der Fäkalien schwammen. Der Dritte, der inzwischen allein am Tisch saß und sich fragte, wo seine Kollegen blieben, starb wenige Sekunden später. Ein Mann in einer Kellnerjacke stieß ihm im Vorbeigehen einen Giftpfeil in den Nacken.
Die Morde waren allesamt recht schlampig durchgeführt worden. Zu viel Blut, zu viele Zeugen. Die Flucht war riskant, aber Sammy Tin hatte Glück und konnte unbeobachtet durch die Küche entkommen, in der gerade Hochbetrieb herrschte. Als die Leibwächter gerufen wurden, rannte er schon durch eine kleine Gasse hinter dem Restaurant. Er verschwand in den Schatten der Stadt, hielt ein Taxi an und betrat zwanzig Minuten später die chinesische Botschaft. Am nächsten Tag war er in Peking und feierte seinen ersten Erfolg.
Die dreisten Anschläge erschütterten die internationalen Geheimdienste. Konkurrierende Dienste versuchten herauszufinden, wer der Killer gewesen war. Die Operation war das genaue Gegenteil der Vorgehensweise, mit der die Chinesen ihre Feinde sonst eliminierten. Sie waren bekannt und berühmt für ihre Geduld, für die Fähigkeit zu warten und zu warten, bis der perfekte Zeitpunkt gekommen war. Sie jagten ihre Beute so lange, bis diese aufgab. Falls sie nicht aufgab, gingen sie zum nächsten Plan über und warteten auf ihre Chance.
Als es wieder geschah, einige Monate später in Berlin, war die Legende Sammy Tins geboren. Ein französischer Manager hatte den Chinesen gefälschte Geheimdokumente aus dem Hightech-Bereich übergeben, die etwas mit mobilem Radar zu tun hatten. Er wurde vom Balkon seines im dreizehnten Stock liegenden Hotelzimmers geworfen. Als er neben dem Pool aufschlug, bekamen das zahlreiche entsetzte Sonnenanbeter mit. Wieder gab es zu viele Zeugen.
In London blies Sammy Tin einem Mann mit einem Mobiltelefon den Kopf weg. In New Yorks Chinatown verlor ein Überläufer den größten Teil seines Gesichts, als seine Zigarette explodierte. Es dauerte nicht lange, bis Sammy Tin die meisten spektakulären Geheimdienstmorde zugeschrieben wurden. Die Legende verbreitete sich. Obwohl seine Einheit noch vier oder fünf andere Mitglieder hatte, arbeitete er oft allein. In Singapur verlor er einen Mann, als die Zielperson plötzlich mit ein paar Freunden auftauchte, die bis an die Zähne bewaffnet waren. Es war einer seiner seltenen Fehlschläge, und er lernte daraus, personalintensive Operationen zu vermeiden, schnell zuzuschlagen und nicht zu viele Mitwisser zu beschäftigen.
Als Sammy Tin älter wurde, fielen die Liquidationen weniger spektakulär und weniger gewalttätig aus und ließen sich erheblich einfacher vertuschen. Er war jetzt dreiunddreißig und ohne Zweifel der am meisten gefürchtete Agent der Welt. Die CIA gab ein Vermögen aus, um über jeden seiner Schritte informiert zu sein. Sie wussten, dass er in seiner Pekinger Luxuswohnung war. Nach seiner Abreise spürten sie ihn in Hongkong wieder auf. Als er an Bord eines Flugzeugs nach London ging, wurde Interpol verständigt. In London benutzte er einen anderen Pass und stieg im letzten Moment in eine Maschine der Alitalia, deren Ziel Mailand war.
Interpol konnte nur untätig zusehen. Sammy Tin reiste oft mit einem Diplomatenpass. Er war kein Krimineller. Er war Agent, Diplomat, Geschäftsmann, Universitätsprofessor, alles, was er sein wollte.
Vor Mailands Flughafen Malpensa wartete ein Wagen auf ihn. Er fuhr in Richtung Stadt. Soweit die CIA wusste, war Sammy Tin seit viereinhalb Jahren nicht mehr in Italien gewesen.
Mr Elya sah aus wie ein wohlhabender saudischer Geschäftsmann, allerdings war sein Anzug aus schwerer Wolle fast schwarz und damit ein wenig zu dunkel für Bologna, und die Nadelstreifen hätte man bei einem italienischen Design nie so breit gemacht. Außerdem war sein Hemd rosafarben, mit einem strahlend weißen Kragen. Sicher, keine schlechte Kombination, aber, nun ja, rosafarben eben. Der Kragen war mit einer goldenen Spange geschmückt – auch diese viel zu breit –, die den Knoten der Krawatte zu strangulieren schien. Links und rechts auf der Krawattenspange glitzerte je ein Diamant. Mr Elya hatte eine Schwäche für Diamanten – an jeder Hand funkelte ein großer Diamantring, die
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