Die Begnadigung
den letzten zehn Jahren war immer jemand anders zu der Besprechung gekommen. Jetzt konnte man die Tradition wieder fortsetzen.
Jeden Tag um Punkt sieben Uhr morgens wurde ein Blatt Papier mit der Zusammenfassung aktueller geheimdienstlicher Aktivitäten auf den Schreibtisch des Präsidenten gelegt. Nach fast zwei Monaten im Amt hatte er sich angewöhnt, jedes Wort davon zu lesen. Er fand es überaus faszinierend. Sein Vorgänger hatte sich damit gebrüstet, dass er kaum eine Zeile las – weder Bücher noch Zeitungen oder Zeitschriften. Und Gedrucktes zu Gesetzgebung, Politik, Verträgen oder täglichen Besprechungen schon gar nicht. Morgan hatte nicht einmal seine Reden fehlerfrei vom Blatt lesen können. Doch inzwischen hatte sich so einiges geändert.
Jeden Morgen wurde Susan Penn in einem gepanzerten Wagen von ihrer Wohnung in Georgetown zum Weißen Haus gefahren, wo sie um 7.15 Uhr eintraf. Unterwegs las sie eine Kurzfassung der wichtigsten Aktivitäten, die von der CIA zusammengestellt wurde. An diesem Morgen standen auf Seite vier einige Zeilen über Joel Backman. Er zog die Aufmerksamkeit einiger sehr gefährlicher Subjekte auf sich, zu denen vielleicht sogar Sammy Tin gehörte.
Der Präsident begrüßte sie sehr herzlich und hatte bereits Kaffee neben das Sofa stellen lassen. Wie immer waren sie allein und machten sich sofort an die Arbeit.
»Haben Sie heute Morgen schon die New York Times gelesen?«, fragte er.
»Ja, habe ich.«
»Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass Backman sich seine Freilassung erkauft hat?«
»Sehr gering. Wie ich Ihnen bereits erklärt habe, hatte er keine Ahnung, dass er begnadigt wird. Er hatte keine Zeit, um etwas zu arrangieren. Außerdem sind wir ziemlich sicher, dass er gar nicht das Geld dafür hatte.«
»Aber warum wurde Backman dann begnadigt?«
Susan Penns Loyalität Teddy Maynard gegenüber schmolz wie Butter in der Sonne. Maynard war nicht mehr bei der CIA und würde bald tot sein, doch sie musste an ihre Karriere denken. Mit vierundvierzig Jahren lag vielleicht noch Großes vor ihr. Die Zusammenarbeit mit dem Präsidenten klappte ausgesprochen gut. Er schien keine Eile zu haben, einen neuen CIA-Direktor zu ernennen.
»Offen gesagt, Maynard wollte ihn tot sehen.«
»Warum? Weshalb wollte Maynard ihn tot sehen?«
»Das ist eine lange Geschichte …«
»Nein, ist es nicht.«
»Wir wissen nicht alles.«
»Sie wissen genug. Erzählen Sie mir, was Sie wissen.«
Sie ließ ihre Zusammenfassung auf das Sofa fallen und holte tief Luft. »Backman und Jacy Hubbard hatten sich an eine Sache gewagt, die ihnen über den Kopf wuchs. Es ging um eine Software, die ›JAM‹ genannt wurde. Ihre Mandanten waren so dumm gewesen, die Software in die Vereinigten Staaten zu bringen, weil sie sie für viel Geld verkaufen wollten.«
»Das waren diese jungen Pakistaner, nicht wahr?«
»Ja. Inzwischen sind sie alle tot.«
»Wissen Sie, wer sie getötet hat?«
»Nein.«
»Wissen Sie, wer Jacy Hubbard getötet hat?«
»Nein.«
Der Präsident stand auf, nahm seine Kaffeetasse und ging zu seinem Schreibtisch. Er lehnte sich dagegen und starrte sie an. »Ich kann nicht ganz glauben, dass wir so etwas nicht wissen.«
»Ich auch nicht. Aber es ist nicht so, dass wir nicht versucht hätten, es herauszufinden. Das ist einer der Gründe, warum Maynard alles getan hat, damit Backman freikommt. Sicher, er wollte ihn tot sehen, schon aus Prinzip – die beiden sind einige Male aneinander geraten, und Maynard hat Backman für einen Verräter gehalten. Aber er war auch immer der Meinung, dass uns der Mord an Backman wichtige Informationen liefern würde.«
»Wie bitte?«
»Die entscheidende Frage ist, wer ihn liquidiert. Wenn es die Russen tun, können wir davon ausgehen, dass das Satellitensystem ihnen doch gehört. Für die Chinesen gilt das Gleiche. Wenn er von den Israelis getötet wird, haben Backman und Hubbard aller Wahrscheinlichkeit nach versucht, die Software an die Saudis zu verkaufen. Wenn die Saudis ihn umbringen, spricht vieles dafür, dass Backman sie aufs Kreuz gelegt hat. Wir sind fast sicher, dass die Saudis dachten, sie hätten den Zuschlag bekommen.«
»Und Backman hat sie reingelegt?«
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Wir glauben, dass Hubbards Tod alles durcheinander gebracht hat. Backman hat Angst bekommen und ist ins Gefängnis geflüchtet. Und damit waren sämtliche Absprachen hinfällig.«
Der Präsident ging zu dem Tisch neben dem Sofa und schenkte
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