Die Begnadigung
schon in Bologna war oder sich irgendwo in der Nähe aufhielt.
In unmittelbarer Nähe von Francescas Wohnung lag eine hübsche alte Trattoria namens Da Nino. Da sie die beiden Söhne des alten Nino schon seit Jahren kannte, hatte sie ihnen von ihrem Unfall berichtet. Als sie nun vor der Trattoria stand, kamen die beiden angerannt und hätten sie fast hineingetragen. Die Brüder nahmen ihr Stock, Tasche und Mantel ab und führten sie langsam zum besten Tisch, den sie noch etwas näher zum Kamin geschoben hatten. Dann brachten sie Kaffee und Wasser und fragten, was sie sonst noch brauche. Es war Nachmittag, und die Mittagsgäste waren schon lange gegangen. Francesca und ihr Schüler hatten das Da Nino ganz für sich allein.
Als Marco einige Minuten später die Trattoria betrat, wurde er von den beiden Brüdern wie ein Familienmitglied begrüßt. » La professoressa La sta già aspettando « , sagte einer von ihnen. Die Lehrerin erwartet Sie schon.
Der Sturz auf dem Hügel von San Luca und der verstauchte Knöchel hatten einen anderen Menschen aus Francesca gemacht. Von ihrer kühlen Distanziertheit war nichts mehr zu spüren, und sie wirkte – zumindest im Moment – auch nicht mehr so traurig. Sie lächelte, als sie Marco sah, streckte sogar die Hand aus und zog ihn zu sich, damit sie sich Wangenküsschen geben konnten, eine italienische Sitte, die Marco jetzt schon seit zwei Monaten sah. Allerdings hatte er noch nie Gelegenheit gehabt, diese Form der Begrüßung zu verwenden, denn Francesca war seine erste und einzige weibliche Bekannte in Italien. Sie deutete auf den Stuhl ihr gegenüber. Die Brüder, die neugierig waren, wie Italienischunterricht aussah und sich anhörte, schlichen um den Tisch herum, nahmen seine Jacke, fragten, ob er Kaffee wolle.
»Was macht der Fuß?«, fragte Marco und beging den Fehler, dies auf Englisch zu tun. Sie legte den Finger auf die Lippen, schüttelte den Kopf und sagte: » Non in inglese, Marco, in italiano. «
Er runzelte die Stirn. »Das hatte ich befürchtet.«
Ihr Fuß tat sehr weh. Sie hatte ihn mit Eis gekühlt, während sie gelesen oder ferngesehen hatte, und die Schwellung war zurückgegangen. Für den kurzen Weg zur Trattoria hatte sie eine halbe Ewigkeit gebraucht, aber es war wichtig, den Fuß zu bewegen. Ihre Mutter hatte darauf bestanden, dass sie einen Stock benutzte. Er war ihr eine große Hilfe, doch sie fand es peinlich, damit gesehen zu werden.
Noch mehr Kaffee und Wasser wurden an den Tisch gebracht, und nachdem die beiden Brüder sich vergewissert hatten, dass ihre liebe Freundin Francesca und deren kanadischer Schüler alles hatten, was sie brauchten, zogen sie sich widerstrebend in den vorderen Teil der Trattoria zurück.
»Wie geht es Ihrer Mutter?«, fragte er auf Italienisch.
Gut, aber sie ist sehr müde. Sie pflegt Giovanni nun schon seit einem Monat, was sehr anstrengend ist.
Aha, dachte Marco, über Giovanni darf jetzt gesprochen werden. Wie geht es ihm?
Inoperabler Gehirntumor, erwiderte Francesca, und es dauerte eine Weile, bis Marco das verstanden hatte. Er ist jetzt seit fast einem Jahr schwer krank, das Ende ist nahe. Er ist bewusstlos. Zum Glück.
Was für einen Beruf hatte er, was hat er gemacht?
Er hat viele Jahre lang mittelalterliche Geschichte an der Universität gelehrt. Sie hatten sich dort kennen gelernt – sie war Studentin gewesen, er ihr Professor. Damals war er noch verheiratet, aber die Ehe war schon kaputt. Er hatte zwei Söhne mit seiner Frau. Francesca und ihr Professor verliebten sich ineinander und begannen eine Affäre, die zehn Jahre dauerte, bis er sich von seiner Frau scheiden ließ und sie heiratete.
Kinder? Nein, sagte sie traurig. Giovanni hatte schon zwei, wollte keine mehr. Sie bereute, keine Kinder bekommen zu haben, so wie sie vieles andere auch bereute.
Es war klar, dass ihre Ehe nicht glücklich gewesen war. Vielleicht sollte ich ihr von meinen Ehen erzählen, dachte Marco.
Er bekam bald die Gelegenheit dazu. »Erzählen Sie mir etwas von sich«, bat sie. »Und sprechen Sie langsam. Achten Sie auf die Betonung.«
»Ich bin nur ein kanadischer Geschäftsmann«, fing Marco auf Italienisch an.
»Nein, das stimmt nicht. Wie heißen Sie wirklich?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen.«
»Wie heißen Sie?«
»Wir bleiben besser bei Marco. Es ist eine lange Geschichte, Francesca, und ich kann nicht darüber reden.«
»Also gut. Haben Sie Kinder?«
Ah, ja. Eine ganze Weile erzählte er von seinen
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