Die Begnadigung
zu diesem Zeitpunkt für ihn? Würde Luigi erneut mit ihm untertauchen wollen?
Über allem stand die Frage, ob sich seine Sicherheitslage von einem Tag auf den anderen verschlechtert hatte.
Es ging ihm gut in seinem Versteck in dieser bezaubernden Stadt, wo niemand seinen richtigen Namen wusste. Niemand kannte sein Gesicht. Niemand interessierte sich für ihn. Die Bologneser lebten ihr Leben, ohne andere zu belästigen.
Er erkannte sich ja nicht einmal selbst. Jeden Morgen, wenn er nach der Rasur die Brille und die braune Mütze aus Kord aufsetzte, sagte er im Spiegel Marco Guten Morgen. Verschwunden waren die fleischigen Hängebacken und die verquollenen dunklen Augen, das dichtere, längere Haar. Verschwunden das selbstgefällige Grinsen und die Arroganz. Er war einer von vielen unauffälligen Menschen auf der Straße.
Er lebte nur für den jeweiligen Tag, und ein Tag reihte sich an den anderen. Kein Leser der New York Times ahnte auch nur, wo er war und was er tat.
Als er den Mann in dem dunklen Anzug passierte, wusste er sofort, dass er in Schwierigkeiten war. Der Anzug war fehl am Platz. Es war ein ausländisches Modell von der Stange, aus einem Billigladen. So etwas hatte er in seinem früheren Leben jeden Tag gesehen. Das weiße Hemd war von der langweiligen Sorte, die ihm aus dreißig Jahren Washington nur allzu vertraut war. Einmal hatte er mit einem internen Memo blau-weiße Baumwollhemden mit Button-down-Kragen verbieten wollen, aber Carl Pratt hatte es ihm ausgeredet.
Er hätte nicht sagen können, welche Farbe die Krawatte hatte.
Solche Anzüge sah man unter den Arkaden entlang der Via Fondazza nicht, weder vor Sonnenaufgang noch sonst irgendwann. Er ging ein paar Schritte, warf einen Blick über die Schulter und stellte fest, dass ihm der Anzug folgte. Ein Weißer, dreißig, massig, durchtrainiert, Marco in einem Wettlauf oder Faustkampf klar überlegen. Also musste er zu einer anderen Strategie greifen. Er blieb abrupt stehen und drehte sich um. »Kann ich Ihnen helfen?«
»Hier drüben, Backman«, antwortete jemand anders.
Er erstarrte. Für einen Augenblick wurden seine Knie weich, seine Schultern sanken herab. Nein, sagte er sich, das war kein Traum. All die Schrecken, die das Wort »Backman« mit sich brachte, zogen vor seinen Augen vorüber. Traurig, vor seinem eigenen Namen solche Angst zu haben.
Es waren zwei. Der mit der Stimme kam von der anderen Seite der Via Fondazza herüber. Er trug praktisch denselben Anzug, aber mit einem gewagten weißen Hemd ohne Knöpfe am Kragen. Er war älter, kleiner und viel dünner. Dick und Doof.
»Was wollen Sie?«, fragte Marco.
Die beiden griffen langsam in ihre Taschen. »Wir sind vom FBI«, erklärte der Dicke. Amerikanisches Englisch, vermutlich Mittlerer Westen.
»Wer’s glaubt«, entgegnete Marco.
Vorschriftsmäßig hielten sie ihm ihre Ausweise unter die Nase, aber in der Dunkelheit der Arkaden konnte Marco nichts erkennen. »Das kann ich nicht lesen«, erklärte er.
»Gehen wir spazieren«, sagte der Dünne. Dem Akzent nach aus Boston, irische Abstammung.
»Haben Sie sich verlaufen?«, erkundigte sich Marco, ohne sich von der Stelle zu rühren. Er hatte keine Lust, sich zu bewegen, und seine Füße waren ohnehin schwer wie Blei.
»Wir wissen genau, wo wir sind.«
»Das bezweifle ich. Haben Sie einen Haftbefehl?«
»Brauchen wir nicht.«
Der Dicke beging den Fehler, Marco am linken Ellbogen zu berühren, als wollte er ihn in die gewünschte Richtung bugsieren. Marco riss sich los. »Fassen Sie mich nicht an! Verschwinden Sie. Sie können hier niemanden verhaften. Reden ist alles, was Sie dürfen.«
»Gut, reden wir«, schlug der Dünne vor.
»Ich muss mich nicht mit Ihnen unterhalten.«
»Ein paar Blocks weiter ist ein Café«, sagte der Dicke.
»Freut mich, dann trinken Sie dort einen Kaffee. Und gönnen Sie sich ein Stück Kuchen dazu. Aber lassen Sie mich in Ruhe.«
Dick und Doof sahen sich an, blickten in die Runde, überlegten, was sie tun sollten, welche Konsequenzen ihr Vorgehen haben konnte.
Marco rührte sich nicht. Nicht dass er sich da, wo er war, besonders sicher gefühlt hätte, aber er konnte das dunkle Auto, das hinter der Ecke wartete, geradezu vor sich sehen.
Wo zum Teufel steckte Luigi? War der Zwischenfall Teil eines Komplotts?
Man hatte ihn auf der Via Fondazza aufgespürt, erkannt, demaskiert, bei seinem richtigen Namen genannt. Das bedeutete mit Sicherheit einen weiteren Ortswechsel, einen neuen
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