Die Begnadigung
Unterschlupf.
Der Dünne beschloss, die Kontrolle über die Begegnung an sich zu reißen. »Klar, wir können auch hier reden. In den USA gibt es eine Menge Leute, die Ihnen gern ein paar Fragen stellen würden.«
»Vielleicht bin ich genau deswegen in Bologna.«
»Wir ermitteln wegen des Straferlasses, den Sie sich erkauft haben.«
»Dann verschwenden Sie einen Haufen Geld und Zeit, aber das ist beim FBI ja nichts Neues.«
»Wir haben ein paar Fragen zu dem Deal.«
»Was für ein Blödsinn.« Marco spie dem Dünnen die Worte geradezu ins Gesicht. Zum ersten Mal seit Jahren fühlte er sich wieder wie der Lobbyist, der einen eingebildeten Bürokraten oder begriffsstutzigen Abgeordneten abkanzelte. »Das FBI gibt gutes Geld dafür aus, zwei Clowns wie euch nach Bologna zu schicken, damit ihr mir auf der Straße Fragen stellen könnt, die kein Mensch bei klarem Verstand beantworten würde. Ihr seid wirklich Vollidioten! Warum fahrt ihr nicht nach Hause und sagt eurem Boss, dass er auch ein Vollidiot ist. Und wenn ihr schon dabei seid, könnt ihr ihm gleich ausrichten, dass er Zeit und Geld verschwendet, wenn er denkt, dass ich für meine Begnadigung bezahlt habe.«
»Sie streiten also ab …«
»Ich streite nichts ab. Ich gebe auch nichts zu. Ich sage gar nichts, außer dass das hier das FBI in seiner schlimmsten Form ist. Die Sache ist eine Nummer zu groß für euch, Jungs.«
In den Staaten hätten sie ihn jetzt ein wenig herumgeschubst, geflucht, ihn beschimpft. Aber im Ausland wussten sie nicht so recht, wie sie sich benehmen sollten. Ihr Auftrag lautete, ihn aufzuspüren, nachzuprüfen, ob er tatsächlich unter der von der CIA angegebenen Adresse lebte. Wenn sie ihn gefunden hatten, sollten sie ihn aufrütteln, ihm Angst einjagen, ihn mit Fragen zu Eilüberweisungen und Offshore-Konten bombardieren.
Sie hatten alles genau geplant und oft geübt. Aber unter den Arkaden der Via Fondazza versagte ihre Strategie.
»Wir bleiben in Bologna, bis Sie mit uns reden«, drohte der Dicke.
»Herzlichen Glückwunsch, dann haben Sie einen langen Urlaub vor sich.«
»Wir haben unsere Anweisungen, Mr Backman.«
»Ich auch.«
»Nur ein paar Fragen, bitte«, sagte der Dünne.
»Sprechen Sie mit meinem Anwalt«, erwiderte Marco und wandte sich in Richtung seiner Wohnung.
»Wer ist Ihr Anwalt?«
»Carl Pratt.«
Sie rührten sich nicht, folgten ihm nicht. Marco beschleunigte seine Schritte. Er überquerte die Straße, warf einen kurzen Blick in Richtung seiner Wohnung, wurde aber nicht langsamer. Falls sie ihm folgen wollten, warteten sie zu lange. Als er in die Via del Piombo bog, wusste er, dass sie ihn nie finden würden. Mittlerweile war er hier zu Hause, in diesen Straßen und Gassen mit den dunklen Eingängen zu Läden, die erst in mehr als drei Stunden öffnen würden.
In der Via Fondazza hatten sie ihn nur aufgespürt, weil sie seine Adresse kannten.
Am südwestlichen Rand der Altstadt, in der Nähe der Porta Santo Stefano, nahm er einen Stadtbus, mit dem er eine halbe Stunde lang herumfuhr. An der Endstation in der Nähe des Hauptbahnhofs am nördlichen Stadtrand stieg er in einen anderen Bus und fuhr wieder ins Zentrum. Allmählich füllten sich die Busse mit Frühaufstehern auf dem Weg zur Arbeit. Ein dritter Bus brachte ihn quer durch die Stadt zur Porta Saragozza. Dort begann der 3,6 Kilometer lange Fußweg nach San Luca. Am vierhundertsten Bogen blieb er stehen, um Atem zu schöpfen und sich umzusehen. Zwischen den Säulen unter ihm war kein Verfolger zu entdecken. Das hatte er auch nicht erwartet.
Er setzte den Aufstieg langsamer fort und war nach fünfundfünzig Minuten oben angelangt. Hinter dem Santuario folgte er dem schmalen Pfad, auf dem Francesca gestürzt war, und ließ sich schließlich auf der Bank nieder, auf der sie gewartet hatte. Von hier aus bot sich ein atemberaubender Blick über das morgendliche Bologna. Er zog seine Winterjacke aus, um sich abzukühlen. Die Sonne war mittlerweile aufgegangen und die Luft traumhaft klar und hell. Lange Zeit saß Marco allein da und sah zu, wie die Stadt zum Leben erwachte.
Er wusste die Einsamkeit und die Sicherheit, die sie ihm bot, zu schätzen. Warum konnte er nicht jeden Morgen hier heraufkommen und hoch über Bologna einfach nur dasitzen und nachdenken, höchstens vielleicht noch Zeitung lesen oder einen Freund anrufen und ein wenig plaudern?
Leider hatte er keine Freunde.
Es war ein Wunschtraum, der nicht in Erfüllung gehen
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