Die Begnadigung
würde.
Mit Luigis Mobiltelefon rief er Ermanno an und sagte den Vormittagsunterricht ab. Dann meldete er sich bei Luigi und teilte ihm mit, dass ihm nicht nach Lernen zumute sei.
»Stimmt was nicht?«
»Nein, ich brauche nur eine Pause.«
»Das ist ja sehr schön, Marco, aber wir bezahlen Ermanno dafür, dass er Ihnen Italienisch beibringt. Sie müssen jeden Tag Unterricht haben.«
»Hören Sie auf, Luigi. Heute fällt der Unterricht aus.«
»Das finde ich nicht in Ordnung.«
»Mir egal. Suspendieren Sie mich. Werfen Sie mich raus.«
»Sind Sie sauer?«
»Nein, Luigi, mir geht es ausgezeichnet. Es ist ein schöner Tag, in Bologna ist Frühling, und ich mache einen ausgedehnten Spaziergang.«
»Wohin?«
»Nein, danke, Luigi. Auf Gesellschaft kann ich verzichten.«
»Wollen Sie heute Mittag mit mir essen gehen?«
Marcos Magen meldete sich gierig zu Wort. Mit Luigi zu speisen war immer ein Erlebnis – eines, das ihn nichts kostete. »Gern.«
»Lassen Sie mich nachdenken. Ich rufe Sie zurück.«
»In Ordnung, Luigi. Ciao.«
Sie trafen sich um halb eins im Caffè Atene, einem uralten Kellerlokal in einer engen Gasse, von der aus ein paar Stufen nach unten zu dem winzigen Restaurant führten. Die kleinen quadratischen Tische berührten einander fast. Dazwischen balancierten Kellner Tabletts mit Essen hoch über dem Kopf, und aus der Küche brüllten die Köche. Der Speiseraum war verraucht, laut und überfüllt mit hungrigen Gästen, die sich während des Essens in voller Lautstärke unterhielten. Luigi erklärte, dass das Restaurant schon seit Jahrhunderten bestehe. Es sei so gut wie unmöglich, einen Tisch zu bekommen, und das Essen sei selbstverständlich exquisit. Er schlug vor, dass sie sich als Vorspeise eine Portion Calamari teilten.
Nachdem er den ganzen Vormittag oben bei San Luca hin und her überlegt hatte, war Marco zu dem Schluss gekommen, dass er Luigi besser nichts von seiner Begegnung mit dem FBI erzählte. Zumindest nicht gleich. Vielleicht morgen oder übermorgen, aber für den Augenblick wollte er erst einmal Ordnung in seine Gedanken bringen. Der Hauptgrund für diese Zurückhaltung war, dass er keine Lust hatte, schon wieder seine Zelte abzubrechen und unterzutauchen. Auf jeden Fall nicht zu Luigis Bedingungen.
Wenn er verschwinden musste, dann allein.
Er hatte nicht die geringste Ahnung, was das FBI in Bologna wollte. Offenkundig wussten Luigi und seine Auftraggeber nichts davon, zumindest schien sich sein Gegenüber in erster Linie für Speise- und Weinkarte zu interessieren. Das Leben war schön. Alles war in Ordnung.
Dann gingen die Lichter aus. Plötzlich lag das Caffè Atene in völliger Dunkelheit. Im nächsten Augenblick lief ein fluchender Kellner gegen ihren Tisch und kippte sein Tablett über Luigi und Marco aus. Die Beine des antiken Tisches gaben nach, und die Tischkante bohrte sich schmerzhaft in Marcos Schoß. Gleichzeitig traf ihn ein harter Fußtritt oder Schlag an der Schulter. Alles schrie durcheinander. Glas splitterte. Menschen wurden beiseite gestoßen, dann schrie in der Küche jemand »Feuer!«.
Das Getümmel drinnen und draußen auf der Straße ging ohne ernsthafte Schäden ab. Als Letzter verließ Marco den Raum. Er hatte nach seiner Laptoptasche gesucht, wobei er von der panischen Menge fast überrannt worden wäre. Wie immer hatte er die Tasche am Riemen über seine Stuhllehne gehängt, so dicht an seinem Körper, dass er sie spüren konnte. Im Handgemenge war sie verschwunden.
Die Italiener standen auf der Straße und starrten ungläubig auf das Restaurant. Da drinnen verdarb ihr Essen. Schließlich stieg ein dünnes Rauchwölkchen auf, das sich alsbald in Luft auflöste. Ein Kellner lief mit einem Feuerlöscher herum. Dann war noch mehr Rauch zu sehen, aber nicht viel.
»Ich habe meine Tasche verloren«, sagte Marco zu Luigi, während sie zusahen und warteten.
»Die blaue?«
Wie viele Taschen schleppe ich mit mir herum, Luigi?
»Ja, die blaue.« Jemand musste sie gestohlen haben.
Ein kleines Löschfahrzeug mit grotesk lauter Sirene fuhr vor, bremste abrupt und heulte vor sich hin, während die Feuerwehrleute ins Gebäude stürzten. Die Minuten vergingen, und die Italiener fingen an, sich zu zerstreuen.
Die Entscheidungsfreudigen gingen auf die Suche nach einem anderen Restaurant, solange noch Zeit war. Die anderen glotzten auf den Ort dieses entsetzlichen Unrechts.
Schließlich wurde die Sirene ausgeschaltet. Offenbar war es nicht nötig
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