Die Begnadigung
hat er ein Foto dabei, eventuell versucht er es mit Bestechung. Und dann könnte sich der Rezeptionist plötzlich an Sie erinnern. Auch daran, dass Sie praktisch kein Wort Italienisch sprechen.«
»Eine Frage.«
»Ich habe nur sehr wenige Antworten zu bieten.«
»Warum Italien, ein Land, dessen Sprache ich nicht beherrsche? Warum nicht England oder Australien, wo ich mich unauffälliger einleben könnte?«
»Diese Entscheidung habe nicht ich gefällt, Marco.«
»Ja, hatte ich mir schon gedacht.«
»Warum fragen Sie dann?«
»Ich weiß nicht. Kann ich eine Versetzung beantragen?«
»Die nächste sinnlose Frage.«
»Ein Witz, keine Frage.«
»Können wir jetzt weitermachen?«
»Ja.«
»Während der ersten paar Tage werde ich Sie zum Mittag- und zum Abendessen begleiten, und wir werden immer woanders einkehren. Treviso ist eine hübsche Stadt mit sehr vielen Lokalen, und wir werden sie alle ausprobieren. Sie müssen an den Tag denken, an dem ich nicht mehr da sein werde. Seien Sie vorsichtig, mit wem Sie reden.«
»Ich habe noch eine Frage.«
»Bitte, Marco.«
»Es geht ums Geld. Ich habe absolut kein Interesse daran, irgendwann ohne Bares dazustehen. Wollen Sie und Ihre Leute mir eine Leibrente aussetzen? Ich könnte Ihren Wagen waschen und andere Aufgaben übernehmen.«
»Was ist eine Leibrente?«
»Eine lebenslängliche Rente.«
»Machen Sie sich um Geld keine Gedanken. Fürs Erste übernehme ich die Rechnungen. Sie werden schon nicht verhungern.«
»Okay.«
Luigi zog ein Mobiltelefon aus der Jackentasche. »Für Sie.«
»Und wen soll ich anrufen?«
»Mich, falls Sie etwas brauchen. Meine Nummer steht auf der Rückseite.«
Joel nahm das Telefon und legte es auf den Schreibtisch. »Mein Magen knurrt. Ich habe von einem opulenten Mittagessen mit Wein und Dessert geträumt, den abschließenden Espresso nicht zu vergessen. Natürlich würde ich um diese Uhrzeit nie einen Cappuccino bestellen. Anschließend folgt vielleicht die obligatorische Siesta. Mittlerweile bin ich seit vier Tagen in Italien und habe nichts als Mais-Chips und Sandwiches gegessen. Also, was meinen Sie?«
Luigi blickte auf die Uhr. »Ich weiß schon, wo wir hingehen werden, aber zuerst haben wir noch einiges zu bereden. Sie sprechen überhaupt kein Italienisch, stimmt’s?«
Joel rollte die Augen und stöhnte. Dann versuchte er zu lächeln. »Nein. Ich hatte nie die Gelegenheit, Italienisch, Französisch, Deutsch oder sonst eine Fremdsprache zu lernen. Ich bin Amerikaner, verstehen Sie, Luigi? Mein Land ist größer als ganz Europa, da kommt man mit Englisch aus.«
»Sie sind Kanadier, schon vergessen?«
»Meinetwegen, aber auch wir Kanadier sind isoliert. Da drüben gibt’s nur uns und die Amerikaner.«
»Meine Aufgabe ist es, für Ihre Sicherheit zu sorgen.«
»Vielen Dank.«
»Und deshalb müssen Sie so schnell wie möglich Italienisch lernen.«
»Verstehe.«
»Sie werden einen Lehrer bekommen, einen jungen Studenten namens Ermanno. Mit ihm werden Sie morgens und nachmittags büffeln. Das wird kein Vergnügen.«
»Für wie lange?«
»So lange wie nötig. Hängt ganz von Ihnen ab. Wenn Sie hart arbeiten, werden Sie in drei oder vier Monaten auf eigenen Beinen stehen.«
»Wie lange haben Sie gebraucht, um Englisch zu lernen?«
»Meine Mutter ist Amerikanerin. Zu Hause haben wir Englisch gesprochen, sonst überall Italienisch.«
»Sie weichen aus. Welche Sprachen sprechen Sie sonst noch?«
»Spanisch, Französisch und noch einige andere. Ermanno ist ein hervorragender Lehrer und wohnt gleich um die Ecke.«
»Wir arbeiten bei ihm, nicht hier im Hotel?«
»Genau. Sie müssen immer vorsichtig sein. Was würde der Rezeptionist oder das Zimmermädchen denken, wenn Sie jeden Tag vier Stunden mit einem jungen Mann auf Ihrem Zimmer verbrächten?«
»Gott behüte.«
»Das Zimmermädchen würde an der Tür lauschen, Ihre und Ermannos Sprachübungen hören und mit ihren Kollegen tuscheln. Ein oder zwei Tage später wüsste das gesamte Hotelpersonal, dass der kanadische Geschäftsmann vier Stunden am Tag Italienisch lernt.«
»Ich hab’s verstanden. Jetzt sollten wir aber essen gehen.«
Beim Verlassen des Hotels lächelte Joel dem Rezeptionisten, dem Portier und einem weiteren Angestellten zu, sagte aber kein Wort. Nach ein paar Schritten hatten sie die Piazza dei Signori erreicht, den größten, von Arkaden und Cafés gesäumten Platz Trevisos. Es war zwölf Uhr, und viele Menschen machten sich auf den Weg zum
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