Die Begnadigung
sein neues Wohnviertel war, blickte Joel zu beiden Seiten die schmale Straße hinab.
»Einfacher als Englisch.«
»Das werde ich dann sehen. Wie viele Sprachen beherrschen Sie?«
»Fünf oder sechs.«
Sie traten ein und gingen durch die kleine Halle. Luigi bedachte den offenbar eingeweihten Rezeptionisten mit einem Nicken. Joel brachte ein passables » Buongiorno « zustande, blieb aber nicht stehen, um keine längere Antwort zu provozieren. Sie stiegen drei Treppen hoch und gingen bis zum Ende des schmalen Flurs, wo Luigi einen Schlüssel zückte. Nummer 30 war ein einfach, aber ansprechend möbliertes Zimmer mit Fenstern nach drei Seiten und Blick auf einen Kanal.
»Das schönste Zimmer im ganzen Hotel«, bemerkte Luigi. »Nichts Extravagantes, aber angemessen.«
»Sie hätten meine letzte Unterkunft sehen sollen.« Joel warf die Stofftasche auf das Bett und begann, die Vorhänge aufzuziehen.
Luigi öffnete die Tür des kleinen Schranks. »Sehen Sie her. Sie besitzen jetzt vier Hemden, vier Hosen, zwei Jacketts und zwei Paar Schuhe, alles in der richtigen Größe. Dazu kommt ein dicker Wollmantel – in Treviso kann’s ziemlich kalt werden.«
Joel inspizierte seine neue Garderobe. Die dezenten Kleidungsstücke, alle in gedämpften Farben, waren aufgebügelt und hingen fein säuberlich nebeneinander. Jedes Hemd ließ sich mit jeder Hose und mit den beiden Jacketts kombinieren. Er zuckte die Achseln und bedankte sich.
»In der Kommode da drüben finden Sie einen Gürtel, Socken, Unterwäsche und was Sie sonst noch brauchen. Die Toilettenartikel sind im Bad.«
»Was soll ich dazu sagen?«
»Und hier auf dem Schreibtisch liegen zwei Brillen.«
Luigi nahm eine und hielt sie gegen das Licht. Die Fassung der kleinen rechteckigen Gläser war schwarz, und das ganze Gestell wirkte sehr europäisch. »Armani«, bemerkte er mit einem Anflug von Stolz.
»Eine Lesebrille?«
»Ja und nein. Ich würde vorschlagen, dass Sie sie außerhalb dieses Zimmers ständig tragen. Die Brille gehört zu Ihrer Tarnung. Zu Ihrem neuen Ich.«
»Sie hätten mein altes kennen lernen sollen.«
»Lieber nicht. In Italien sind Äußerlichkeiten sehr wichtig, besonders hier oben im Norden. Ihre Kleidung, Ihre Brille, Ihre Frisur – alles muss gut aufeinander abgestimmt sein. Ansonsten würden Sie auffallen.«
Für einen Augenblick fühlte sich Joel befangen, doch dann dachte er: Was soll’s? Nach den glorreichen Tagen, als maßgeschneiderte Anzüge für dreitausend Dollar an der Tagesordnung gewesen waren, hatte er länger, als ihm lieb war, Häftlingskleidung tragen müssen.
Luigis Vortrag war noch nicht zu Ende. »Keine Shorts, keine schwarzen Socken zu weißen Turnschuhen, keine Polyesterhosen, keine Polohemden. Und werden Sie bloß nicht fett.«
»Was heißt ›Sie können mich mal‹ auf Italienisch?«
»Dazu kommen wir später. Bräuche und Umgangsformen sind wichtig und leicht zu erlernen. Sie werden Gefallen daran finden. Bestellen Sie beispielsweise niemals nach halb elf Uhr am Vormittag einen Cappuccino. Dagegen kann ein Espresso den ganzen Tag über getrunken werden. Wussten Sie das?«
»Nein.«
»Nur Touristen verlangen nach dem Mittag- oder Abendessen einen Cappuccino. Abscheulich. Die ganze Milch auf einen vollen Magen.« Einen Augenblick lang wirkte Luigi, als müsste er sich gleich übergeben.
Joel hob die rechte Hand. »Ich schwöre, dass ich es nie tun werde.«
Luigi zeigte auf einen kleinen Schreibtisch mit zwei Stühlen. »Nehmen Sie Platz.« Sie machten es sich bequem. »Zunächst noch ein Wort zu diesem Zimmer«, fuhr er fort. »Es ist auf meinen Namen gemietet. Die Hotelangestellten halten Sie für einen kanadischen Geschäftsmann, der nur zwei Wochen bleiben wird.«
»Zwei Wochen?«
»Genau, dann werden Sie umziehen.« Luigi sprach möglichst düster, ganz so, als wären schon jetzt Auftragskiller in Treviso, die es auf Joel Backman abgesehen hatten. »Von diesem Augenblick an werden Sie eine Spur hinterlassen. Denken Sie immer daran – was Sie auch tun und mit wem Sie auch Kontakt haben, all das gehört zu dieser Spur. Das Geheimnis des Überlebens besteht darin, so wenig Spuren wie möglich zu hinterlassen. Reden Sie möglichst selten mit anderen Leuten. Das gilt auch für den Rezeptionisten und das Zimmermädchen. Hotelangestellte beobachten die Gäste und haben ein gutes Gedächtnis. Vielleicht kommt in sechs Monaten jemand in dieses Hotel spaziert und stellt Fragen über Sie. Möglicherweise
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