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Die Begnadigung

Titel: Die Begnadigung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Grisham
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Mittagessen. Trotz seines angenehm warmen neuen Wintermantels spürte Joel, dass es kälter wurde. Er gab sich alle Mühe, wie ein Italiener zu wirken.
    »Drinnen oder draußen?«, fragte Luigi.
    »Drinnen«, antwortete Joel. Sie betraten das direkt an der Piazza gelegene Caffè Beltrame, das durch einen großen Kachelofen in der Nähe des Eingangs geheizt wurde. Aus der hinten gelegenen Küche drangen wohlriechende Düfte in das Lokal. Luigi sprach mit dem Oberkellner, wobei beide gleichzeitig aufeinander einredeten und schließlich lachten. Sie bekamen einen Tisch an der vorderen Fensterfront.
    »Wir haben Glück«, sagte Luigi, nachdem sie die Mäntel abgelegt und Platz genommen hatten. »Heute gibt es Faraona con polenta .«
    »Was soll das sein?«
    »Perlhuhn mit Maisbrei.«
    »Was gibt es sonst noch?«
    Luigi studierte eine der an einem Balken hängenden Tafeln. » Panzerotti di funghi al burro – Teigtaschen mit in Butter gebratenen Champignons. Conchiglie con cavolfiori – mit Blumenkohl gefüllte Teigmuscheln. Spiedino di carne mista alla griglia – Spieße mit verschiedenen Fleischsorten vom Grill.«
    »Ich bestelle alles.«
    »Der Hauswein ist ziemlich gut.«
    »Für mich bitte Rotwein.«
    Innerhalb von ein paar Minuten war das Lokal mit Einheimischen überfüllt, die sich alle zu kennen schienen. Ein fröhlicher kleiner Mann mit einer fleckigen weißen Schürze tauchte an ihrem Tisch auf, warf einen kurzen Blick auf Joel und hörte sich dann Luigis lange Liste von Bestellungen an, ohne auch nur ein Wort aufzuschreiben. Der Kellner brachte eine Karaffe Wein, eine Schale mit warmem Olivenöl und eine Platte mit Focaccia. Joel begann zu essen, während Luigi über die komplizierten Geheimnisse der Bräuche, Umgangsformen und Tischsitten dozierte – und über die Fehler der Touristen, die als echte Italiener durchgehen wollten.
    Von Luigi konnte man eine Menge lernen.
    Obwohl Joel nur vorsichtig an seinem ersten Glas Wein nippte, stieg ihm der Alkohol sofort in den Kopf, und er spürte eine wundervolle Wärme und leichte Benommenheit. Er war frei, etliche Jahre früher als erwartet, und saß bei einem guten Glas Wein in einem hübschen, nach hervorragendem Essen duftenden Restaurant in einer italienischen Stadt, von der er zuvor noch nie gehört hatte. Zunächst lauschte er Luigis Erklärungen lächelnd, doch irgendwann schweiften seine Gedanken in eine andere Welt ab.
     
    Ermanno behauptete, dreiundzwanzig Jahre alt zu sein, wirkte aber eher wie sechzehn. Er war groß und mitleiderregend dünn, und mit seinen blonden Haaren und den haselnussbraunen Augen sah er eher wie ein Deutscher aus als wie ein Italiener. Er war sehr schüchtern und ziemlich nervös, und Joels erster Eindruck war alles andere als positiv.
    Sie waren in Ermannos Wohnung, die sich im zweiten Stock eines heruntergekommenen Hauses befand, ein paar Straßen von Joels albergo entfernt. Es gab drei kleine, spärlich möblierte Räume – Küche, Schlafzimmer, Wohnzimmer –, aber da Ermanno Student war, musste einen das nicht überraschen. Trotzdem wirkte die Wohnung, als wäre er gerade erst eingezogen und könnte jeden Augenblick wieder ausziehen.
    Sie saßen um einen kleinen Schreibtisch, der in der Mitte eines kalten, dämmrigen Wohnzimmers ohne Fernseher stand. Joel konnte sich nicht helfen, aber er fühlte sich an einen unterirdischen Tunnel erinnert, in dem Flüchtlinge lebten oder wo sie durchgeschleust wurden. Nach dem zweistündigen Essen war ihm angenehm warm gewesen, doch damit war es allmählich vorbei.
    Ermannos Nervosität machte die Situation nicht angenehmer.
    Da sein neuer Sprachlehrer sich als unfähig erwies, die Initiative zu übernehmen, tat Luigi es. Er schlug vor, dass sie vormittags von neun bis elf lernten, dann eine zweistündige Pause einlegten und sich gegen halb zwei erneut trafen, um so lange zu arbeiten, bis die Konzentration nachließ. Ermanno schien einverstanden zu sein, und Joel dachte daran, eine nahe liegende Frage zu stellen: Wenn mein neuer Lehrer Student ist, warum hat er dann Zeit, den ganzen Tag Sprachunterricht zu geben? Aber er ließ die Sache auf sich beruhen – er konnte später noch versuchen, es herauszufinden.
    Allmählich gab es schon einen kleinen Berg von Fragen.
    Ermanno schien sich entspannt zu haben und erklärte, wie er sich den Unterricht vorstellte. Wenn er langsam sprach, war sein Akzent nicht weiter störend, redete er dagegen schnell, wie es seinem Temperament entsprach, klang

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