Die Begnadigung
einmal vage ein bis zwei Wörter, da folgte schon der nächste.
Doch seine beiden Tischgenossen redeten nicht einfach um des Redens willen. Sobald sie merkten, dass sich Marco aus der Unterhaltung zurückgezogen hatte und nur nickte, damit sie weitersprachen und er in Ruhe ein paar Bissen essen konnte, hielten sie sofort inne und hakten nach. » Che cosa ho detto? « Was habe ich gesagt?
Marco kaute gründlich, um Zeit zu gewinnen, bis ihm eine passende Antwort – auf Italienisch, verflixt! – eingefallen war. Trotz allem lernte er immer besser, zuzuhören und rasch die Schlüsselwörter zu erfassen. Die beiden hatten ihm wiederholt erklärt, dass man bei einer Fremdsprache immer mehr verstehe, als man sagen könne.
Das Essen rettete ihn schließlich. Was war der Unterschied zwischen Tortellini und Tortelloni? Auf der Karte standen beide Nudelsorten, die einen mit Fleisch gefüllt, die anderen mit Ricotta. Als der Koch mitbekam, dass Marco Kanadier war und sich für die Bologneser Küche interessierte, bestand er darauf, beides aufzutragen. Und wie immer erklärte Luigi, dass man diese Speisen natürlich nur in Bologna und nur bei den besten Köchen bekomme.
Marco beschränkte sich darauf, die Spezialitäten in sich hineinzuschlingen, um möglichst wenig sagen zu müssen.
Nach zwei Stunden bestand er auf einer Pause, leerte seinen zweiten Espresso und stand auf. Vor dem Restaurant trennten sie sich, er ging allein davon, mit klingenden Ohren und schwirrendem Kopf von dem unbarmherzigen Sprachtraining.
Zwei Straßen weiter bog er von der Via Rizzoli in eine Querstraße ab und machte von dort aus noch einmal ein paar Schwenker, um sicher zu sein, dass ihm niemand folgte. Die langen Arkadengänge waren ideal, um sich zu verstecken. Als die Straßen voller Studenten waren, überquerte er die Piazza Verdi, wo der Protest gegen die Weltbank gerade in einer flammenden Rede Ausdruck fand. Marco war zur Abwechslung einmal froh, dass er nichts verstand. In der Via Zamboni 22 blieb er stehen und blickte auf die massive Holztür der juristischen Fakultät. Er trat ein und gab sich alle Mühe, so auszusehen, als gehörte er hierher. Er sah keine Wegweiser, nur ein Schwarzes Brett, auf dem Wohnungen, Bücher, Freundschaften und viele weitere Dinge angeboten wurden, inklusive eines Sommerkurses an der Wake Forest Law School in Winston-Salem, North Carolina.
Der Korridor mündete in einen Hof, wo Studenten rauchend und telefonierend auf den Beginn des nächsten Kurses warteten. Marco fiel eine Treppe zu seiner Linken ins Auge. Er stieg in den dritten Stock hoch, wo er schließlich so etwas wie einen Wegweiser fand. Das Wort Uffici kannte er, und so folgte er der angewiesenen Richtung durch den Korridor an zwei Seminarräumen vorbei, bis er die Büros der Dozenten fand. Die meisten Türen waren mit Schildern versehen, einige wenige nicht. An der letzten stand »Rudolph Viscovitch«, der einzige nichtitalienische Name, der ihm im ganzen Gebäude aufgefallen war. Marco klopfte, aber nichts rührte sich. Er drückte die Klinke; die Tür war verschlossen. Rasch zog er aus seiner Manteltasche ein Blatt Papier, das er im Hotel Campeol in Treviso eingesteckt hatte, und schrieb:
Lieber Rudolph, ich war zufällig in der Gegend, da beschloss ich, bei Ihnen vorbeizugehen und Hallo zu sagen. Vielleicht treffen wir uns ja wieder mal im Fontana. War nett, mit Ihnen zu plaudern. Schön, gelegentlich die Muttersprache zu hören.
Ihr kanadischer Freund, Marco Lazzeri
Er schob den Zettel unter der Tür durch und ging hinter einer Gruppe Studenten die Treppe hinunter. Zurück in der Via Zamboni, ließ er sich treiben, ohne ein bestimmtes Ziel im Sinn zu haben. Einmal blieb er stehen, um ein gelato zu essen, dann kehrte er zum Hotel zurück. Für einen Mittagsschlaf war es in dem kleinen, dunklen Zimmer zu kalt. Wieder einmal nahm er sich vor, sich bei seinem Kontaktmann zu beschweren. Das Mittagessen hatte dreimal so viel gekostet wie drei Übernachtungen in dieser Klitsche. Zweifellos hätten Luigi und sein Verein sich eine schönere Bleibe für ihn leisten können.
Müde schleppte er sich zu Ermannos winziger Studentenbude, wo der Nachmittagsunterricht stattfinden sollte.
Luigi stand geduldig am Hauptbahnhof von Bologna und wartete auf den Eurostar aus Mailand. Es war relativ wenig los – die Ruhe vor dem Feierabendsturm. Pünktlich um 15.35 Uhr rauschte das schlanke, schimmernde Geschoss heran, und Whitaker stieg
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