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Die Begnadigung

Titel: Die Begnadigung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Grisham
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irgendetwas und fragte: » Cos’è quello? «
    Was ist das? Ein Fahrrad, ein Polizist, ein blaues Auto, ein Stadtbus, eine Parkbank, ein Mülleimer, ein Student, ein Telefonhäuschen, ein kleiner Hund, ein Café, eine Konditorei. Vom Laternenpfahl abgesehen, wusste Marco alles sofort korrekt auf Italienisch zu benennen. Auch für die wichtigsten Verben – gehen, reden, sehen, studieren, kaufen, denken, sich unterhalten, atmen, essen, trinken, sich beeilen, fahren … die Liste ließ sich beliebig fortsetzen – hatte er jederzeit die richtige Entsprechung parat.
    Kurz nach zehn erwachte die Universität zum Leben. Ermanno erklärte, dass es keinen zentralen Campus gebe, kein mit Bäumen gesäumtes Karree, wie es in den USA üblich sei. Die Università degli Studi – so der offizielle Name – bestand aus Dutzenden schöner Gebäude, die zum Teil fünfhundert Jahre alt waren. Die meisten davon standen dicht nebeneinander in der Via Zamboni, doch im Verlauf der Jahrhunderte war der Komplex immer mehr ausgeufert und nahm inzwischen ein ganzes Stadtviertel ein.
    Ein oder zwei Querstraßen lang vergaßen sie die Italienischstunde, weil sie in einen Schwarm von Studenten geraten waren, die zu ihren Kursen hasteten. Marco ertappte sich dabei, wie er nach einem älteren Mann mit grauem Haar Ausschau hielt – seinem Lieblingskommunisten, seiner ersten Bekanntschaft seit dem Gefängnis. Für ihn stand längst fest, dass er Rudolph Wiedersehen wollte.
    Vor dem Haus mit der Nummer zweiundzwanzig blieb er stehen und blickte auf das Schild, das zwischen der Tür und einem Fenster angebracht war: Facoltà di giurisprudenza.
    »Ist das die juristische Fakultät?«
    » Sì. «
    Irgendwo dort drinnen war Rudolph und verbreitete linke Ideen unter seiner formbaren jungen Hörerschar.
    Sie gingen ohne Eile weiter, nahmen ihr Ratespiel wieder auf und genossen die pulsierende Energie der Straße.
13
    D ie Lezione a Piedi – der Unterricht zu Fuß – wurde am nächsten Tag wieder aufgenommen, als Marco nach einer Stunde zäher Grammatikübungen aus dem Lehrbuch streikte und spazieren gehen wollte.
    » Ma Lei deve imparare la grammatica «, beharrte Ermanno. Sie müssen die Grammatik lernen.
    Marco war bereits dabei, in seinen Mantel zu schlüpfen. »Sie irren sich, Ermanno. Ich muss Konversation üben, nicht komplizierte Sätze konstruieren.«
    » Sono io l’insegnante. « Ich bin der Lehrer.
    »Gehen wir. Andiamo. Bologna wartet. Die Straßen sind voll von lebensfrohen jungen Leuten, die Luft ist erfüllt vom Klang ihrer Sprache, und alles wartet nur darauf, von mir aufgesogen zu werden.« Als Ermanno zögerte, grinste Marco. »Ich war sechs Jahre in einer Zelle eingesperrt, die ungefähr so groß war wie diese Bude hier. Sie können nicht von mir erwarten, dass ich mich hier drin aufhalte. Da draußen ist eine Stadt, die vor Lebendigkeit vibriert. Gehen wir auf Entdeckungstour.«
    Die Luft draußen war klar und frisch, kein Wölkchen stand am Himmel. Es war ein herrlicher Wintertag, der die warmblütigen Bologneser auf die Straße lockte, wo sie lange Spaziergänge oder ausgedehnte Schwätzchen mit alten Freunden machten. Studenten mit schlaftrunkenen Gesichtern begrüßten sich, Hausfrauen tauschten den neuesten Klatsch aus. Ältere Herren in Mantel und Krawatte schüttelten sich die Hand und begannen dann, alle auf einmal zu reden. Straßenhändler priesen ihre Waren an.
    Ermanno betrachtete den Ausflug nicht als Spaziergang. Wenn sein Schüler Konversation üben wollte, bitte. Er deutete auf einen Polizisten. »Gehen Sie zu diesem Polizisten«, sagte er, natürlich auf Italienisch, »und fragen Sie, wie es zur Piazza Maggiore geht. Dann kommen Sie zu mir und wiederholen, was er gesagt hat.«
    Marco ging langsam los, murmelte ein paar Worte vor sich hin und versuchte, sich andere ins Gedächtnis zu rufen. » Buongiorno « , sagte er und hielt beinahe den Atem an.
    » Buongiorno « , erwiderte der Polizist.
    » Mi può aiutare? « Können Sie mir helfen?
    » Certo. « Sicher.
    » Sono canadese. Non parlo molto bene l’italiano. « Ich bin Kanadier und spreche nicht besonders gut Italienisch.
    » Allora? « Also? Der Polizist lächelte immer noch und schien gern bereit zu helfen.
    » Dov’è la Piazza Maggiore? «
    Der Polizist drehte sich um und blickte in die Ferne, Richtung Stadtzentrum. Er räusperte sich, und Marco richtete sich auf einen Schwall von Instruktionen ein. Nur ein paar Meter weiter stand Ermanno und

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