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Die Begnadigung

Titel: Die Begnadigung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Grisham
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wodurch sie ihren zweiten Beinamen bekam, la rossa, ›die Rote‹. Die Bologneser haben schon immer sehr viel Wert aufs Essen gelegt. Sie glauben – und wahrscheinlich haben sie damit sogar Recht –, dass ihre Stadt der Magen Italiens ist. So erklärt sich der dritte Beiname, la grassa, ›die Beleibte‹ – was allerdings eine zärtliche Übertreibung ist, denn man sieht hier nicht viele übergewichtige Leute. Ich war beleibt, als ich hierher kam.« Er klopfte sich stolz mit einer Hand auf den Bauch, während er mit der anderen die übrige Hälfte der Brioche in den Tiefen seines Bartes verschwinden ließ.
    In diesem Moment schoss Marco ein beängstigender Gedanke durch den Kopf. War es möglich, dass Rudolph Teil des Spiels war? War er ein Kollege von Luigi, Ermanno, Stennett und all den anderen, die irgendwo im Verborgenen saßen und sich viel Mühe gaben, ihn am Leben zu erhalten? Bestimmt nicht. Bestimmt war er das, was er gesagt hatte: ein Universitätsprofessor. Ein komischer Kauz, ein Außenseiter, ein alt gewordener Kommunist, der in der Fremde ein besseres Leben gefunden hatte.
    Marco versuchte, den Gedanken zu verdrängen, aber er setzte sich in seinem Kopf fest. Er aß sein Panino auf und beschloss, das Gespräch an dieser Stelle zu beenden. Plötzlich fiel ihm ein, dass er noch einen Zug erreichen müsse, der ihn zu einer weiteren Sehenswürdigkeit bringen werde. Er schaffte es irgendwie, sich aus seiner Nische zu zwängen, und wurde von Rudolph überschwänglich verabschiedet. »Ich bin jeden Morgen hier«, fügte sein neuer Freund hinzu. »Kommen Sie wieder, wenn Sie mehr Zeit haben.«
    » Grazie « , erwiderte Marco. » Arrivederci. «
    Draußen erwachte die Via Irnerio allmählich zum Leben. Kleine Lieferwagen begannen ihre täglichen Runden. Zwei Fahrer brüllten sich an – wahrscheinlich tauschten sie nett gemeinte Ruppigkeiten aus, die Marco nie verstehen würde. Er entfernte sich eiligen Schrittes von dem Café, damit Rudolph ihn nicht mehr erwischte, falls ihm im Nachhinein noch etwas einfiel. Er bog in eine Seitenstraße ein, die Via Capo di Lucca – die Straßen waren gut beschildert und auf dem Stadtplan schnell zu finden –, und steuerte im Zickzackkurs auf das Zentrum zu. Er ging an einem gemütlichen kleinen Café vorbei, kehrte dann um und schlüpfte hinein, um einen Cappuccino zu trinken.
    Hier belästigten ihn keine Kommunisten, man schien ihn gar nicht zur Kenntnis zu nehmen. Marco und Joel genossen diesen Augenblick – das köstliche, belebende Getränk, die warme, stickige Luft und das leise Lachen der anderen Gäste, die sich unterhielten. Nicht ein Mensch auf der Welt wusste in diesem Augenblick, wo er sich befand, und das war ein wunderbarer Gedanke.
     
    Auf Marcos Wunsch begann der Vormittagsunterricht nun schon um acht Uhr, nicht erst eine halbe Stunde später. Als Student zog Ermanno es vor, morgens länger zu schlafen, aber er hatte dem hartnäckigen Drängen seines Schülers nichts entgegenzusetzen. Marco hatte jeden Morgen seine Vokabeln gelernt, seine Übungsdialoge durchgearbeitet und konnte den Drang, diese Sprache endlich einigermaßen zu beherrschen, kaum zügeln. Einmal schlug er sogar vor, schon um sieben anzufangen.
    An dem Morgen, als er Rudolph kennen gelernt hatte, arbeitete er zwei Stunden lang intensiv mit, dann brach er abrupt ab. » Vorrei vedere l’università. « Ich möchte die Universität sehen.
    » Quando? « , fragte Ermanno.
    » Adesso. Andiamo a fare una passeggiata. « Jetzt. Machen wir einen Spaziergang.
    » Penso che dobbiamo continuare a studiare. « Ich denke, wir sollten weiterlernen.
    » Sì, possiamo studiare camminando. « Wir können beim Gehen lernen.
    Marco war schon auf den Beinen und griff nach seinem Mantel. Sie verließen den deprimierenden Plattenbau und gingen Richtung Universität los.
    » Questa via, come si chiama? « , fragte Ermanno. Wie heißt diese Straße?
    » Via Donati « , antwortete Marco, ohne nach einem Straßenschild Ausschau zu halten.
    Sie hielten vor einem überfüllten kleinen Laden. » Che negozio è questo? «, wollte Ermanno wissen. Was ist das für ein Geschäft?
    » Una tabaccheria. «
    » Che cosa si può comprare in questo negozio? « Was kann man in diesem Geschäft kaufen?
    » Sì possono comprare molte cose: giornali, riviste, francobolli, sigarette. « Man kann vieles kaufen: Zeitungen, Zeitschriften, Briefmarken, Zigaretten.
    Die Stunde geriet zum heiteren Begrifferaten. Ermanno deutete auf

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