Die Begnadigung
eindrucksvoll.« Marco war wohl bewusst, dass sie englisch mit ihm sprach, und das kam ihm sehr gelegen.
»Möchten Sie die kurze oder die lange Version der Führung?«, fragte sie. Obwohl es drinnen fast so kalt war wie draußen, schien Signora Ferro allmählich etwas aufzutauen.
»Sie sind die Lehrerin«, gab er zurück.
Sie schlenderten auf die linke Seite hinüber und warteten, bis eine kleine japanische Touristengruppe die Besichtigung der Krypta beendet hatte. Von den Japanern abgesehen war das Kirchenschiff leer. Es war ein Freitag im Februar, also Nebensaison. Später am Nachmittag würde Marco erfahren, dass die Signora in den Wintermonaten als Fremdenführerin kaum zu tun hatte – es war das Einzige, das sie an Persönlichem preisgab.
Da sonst keine Arbeit auf sie wartete, hatte sie in der Basilica di San Petronio keine Eile. Sie sahen sich sämtliche zweiundzwanzig Seitenkapellen an sowie den überwiegenden Teil der Gemälde, Skulpturen, Buntglasscheiben und Fresken. Die Kapellen waren über die Jahrhunderte von reichen Bolognesern errichtet worden, die für diese Familienmonumente eindrucksvolle Summen bezahlt hatten. Sie waren ein wichtiger Bestandteil der Stadtgeschichte, und Francesca Ferro wusste alles über sie. Sie zeigte ihm den gut erhaltenen Schädel des heiligen Petronius, der stolz auf einem Altar thronte, sowie eine astronomische Uhr, konstruiert 1655 von zwei Gelehrten auf der Grundlage der Studien von Galileo Galilei.
Obwohl ihn die Details von Gemälden und Skulpturen ebenso wie die Flut von Namen und Daten bald überforderten, hielt Marco tapfer durch. Die Sprache seiner Führerin hielt ihn gefangen, ihre gewählte Ausdrucksweise, ihr perfektes Englisch, vor allem aber der volle Klang ihrer Stimme.
Lange nachdem die Japaner die Basilika verlassen hatten, gingen sie zurück zum Haupteingang. »Haben Sie genug?«, fragte sie.
»Ja.«
Als sie draußen waren, zündete sie sich sofort eine Zigarette an.
»Wie wär’s mit einem Kaffee?«, fragte er.
»Okay. Ich weiß auch schon, wo.«
Er folgte ihr über die Via Clavature. Nur ein paar Schritte weiter betraten sie das Café Rosa Rose. »Hier gibt es den besten Cappuccino am Platz«, versicherte sie ihm und bestellte zwei an der Bar. Er wollte sie schon auf die italienische Sitte hinweisen, die das Cappuccino-Trinken nach halb elf vormittags verbot, schwieg dann aber. Während sie warteten, streifte sie sorgfältig Lederhandschuhe, Schal und Mantel ab. Offenbar sollte diese Kaffeepause länger dauern.
Sie nahmen einen Tisch am Fenster. Signora Ferro rührte zwei Stück Zucker in ihre Tasse und wirkte so weit zufrieden. Sie hatte in den letzten drei Stunden nicht gelächelt, also rechnete Marco auch jetzt nicht damit.
»Ich habe Kopien der Unterlagen, die Sie mit dem anderen Lehrer benutzen«, sagte sie und griff nach den Zigaretten.
»Ermanno.«
»Keine Ahnung, ich kenne ihn nicht. Ich schlage vor, wir machen nachmittags Konversationstraining, basierend auf dem, was Sie vormittags mit ihm durchgenommen haben.«
Er war nicht in der Position, ihre Vorschläge zu kritisieren. »Einverstanden«, entgegnete er deshalb mit einem Schulterzucken.
Sie zündete eine Zigarette an und trank einen Schluck Cappuccino.
»Was hat Ihnen Luigi über mich erzählt?«, fragte Marco.
»Nicht viel. Sie sind Kanadier und für längere Zeit in Italien, um zu reisen und die Sprache zu erlernen. Stimmt das?«
»Ist das eine persönliche Frage?«
»Nein, ich möchte nur wissen, ob es stimmt.«
»Ja.«
»Es gehört nicht zu meinen Aufgaben, diese Dinge zu hinterfragen.«
»Darum habe ich Sie auch nicht gebeten.«
Er fühlte sich unwillkürlich in einen Gerichtssaal versetzt, wo er sie als Zeugin in stoischer Arroganz vor der Richterbank sitzen sah, zutiefst davon überzeugt, dass sie jedem Kreuzverhör standhalten würde. Sie beherrschte den zerstreuten, immer leicht beleidigten Blick, der bei Europäerinnen offenbar verbreitet war, perfekt. Die Zigarette direkt vors Gesicht haltend, ließ sie ihre Augen über die Szenerie draußen auf der Straße wandern, ohne wirklich etwas zu sehen.
Smalltalk gehörte jedenfalls nicht zu ihren Talenten.
»Sind Sie verheiratet?«, wollte Marco wissen, vorsichtig das Kreuzverhör einleitend.
Ein sarkastisches Grunzen, ein aufgesetztes Lächeln.
»Ich habe meine Anweisungen, Mr Lazzeri.«
»Marco, bitte. Wie darf ich Sie anreden?«
»Signora Ferro wäre mir recht für den Anfang.«
»Aber Sie sind zehn
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