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Die Begnadigung

Titel: Die Begnadigung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Grisham
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betrachtete. Da ihr offenbar keine gefiel, ging sie zu einem Kiosk und kaufte zwei Modezeitschriften. Als sie auf den Flugsteig und die erste Gepäckkontrolle zusteuerte, nahm Marco allen Mut zusammen und trat vor. »Hallo, Miss, verzeihen Sie bitte.« Sie konnte nicht umhin, ihn anzusehen, aber sie war zu misstrauisch, um etwas zu erwidern.
    »Fliegen Sie zufällig nach Dulles?«, fragte er mit breitem Grinsen und kurzatmig, als wäre er ihr nachgerannt.
    »Ja«, fauchte sie. Kein Lächeln. Ohne Zweifel eine Amerikanerin.
    »Ich im Prinzip auch, aber mein Pass wurde mir gestohlen. Keine Ahnung, wann ich nach Hause komme.«
    Er zog einen Umschlag aus der Tasche. »Das ist eine Geburtstagskarte für meinen Vater. Könnten Sie sie einwerfen, wenn Sie in Washington sind? Der Geburtstag ist nächsten Dienstag, und ich fürchte, bis dahin schaffe ich es nicht. Bitte.«
    Argwöhnisch beäugte sie erst ihn, dann den Umschlag. Es war nur eine Geburtstagskarte, keine Bombe, keine Waffe.
    Marco kramte in seiner Tasche herum. »Entschuldigen Sie, dass noch keine Briefmarke draufklebt. Hier ist ein Euro. Es wäre wahnsinnig nett, wenn Sie das für mich tun könnten.«
    Endlich entspannte sich ihre Miene, und sie brachte fast ein Lächeln zustande. »Klar«, sagte sie, nahm Umschlag und Münze und steckte beides in ihre Handtasche.
    »Vielen, vielen Dank«, antwortete Marco mit einem Ausdruck, als wäre er den Tränen nahe. »Es ist sein Neunzigster. Vielen Dank.«
    »Klar, ist doch kein Problem«, gab sie zurück.
    Bei dem Typ mit den gelben Kopfhörern war es nicht so einfach. Auch er war Amerikaner, und auch er fiel auf die Geschichte mit dem gestohlenen Pass herein. Aber als Marco versuchte, ihm den Umschlag in die Hand zu drücken, sah er sich nervös um, als fürchtete er, etwas Illegales zu tun.
    »Ich weiß nicht, Mann«, sagte er und trat einen Schritt zurück. »Ich mach das lieber nicht.«
    Statt weiter zu drängen, trat Marco lieber den Rückzug an. »Na, dann guten Flug«, sagte er so sarkastisch wie möglich.
    Mrs Ruby Ausberry aus York, Pennsylvania, war einer der letzten Passagiere am Schalter. Sie hatte vierzig Jahre lang Geschichte an der Highschool unterrichtet und investierte nun freudig ihre Rente in Reisen zu all den Orten, die sie bislang nur aus Schulbüchern kannte. Im Augenblick befand sie sich auf dem Heimweg von einer dreiwöchigen Rundreise durch die Türkei, und in Mailand war sie nur, weil sie von Istanbul nach Washington keinen Direktflug bekommen hatte. Der nette Herr kam mit einem verzweifelten Lächeln auf sie zu und erklärte, dass man ihm seinen Pass gestohlen habe und er deshalb den neunzigsten Geburtstag seines Vaters verpassen werde. Bereitwillig nahm sie die Karte entgegen und verstaute sie in ihrer Tasche. Nachdem sie die Gepäckkontrolle passiert hatte, ging sie noch etwa anderthalb Kilometer bis zum Flugsteig, wo sie sich einen Sitzplatz suchte und häuslich einrichtete.
    Kaum fünf Meter hinter ihr traf im selben Moment die Rothaarige eine Entscheidung. Es könnte doch eine Briefbombe sein. Der Umschlag schien zwar nicht dick genug, um Sprengstoff zu enthalten, aber was wusste sie schon von diesen Dingen? Am Fenster stand ein Abfalleimer – eine schlanke, chromglänzende Tonne mit ebensolchem Deckel (schließlich waren sie ja in Mailand) –, auf den sie nun zuschlenderte, um den Brief unauffällig hineinfallen zu lassen.
    Was, wenn er da drin explodierte?, fragte sie sich, als sie sich setzte. Aber es war zu spät. Sie würde nicht hinübergehen und ihn wieder herausangeln. Außerdem, was sollte sie dann damit machen? Zu irgendeinem Uniformträger gehen und ihm auf Englisch zu erklären versuchen, dass sie glaubte, möglicherweise eine Briefbombe in Händen zu halten? Vergiss es, sagte sie zu sich selbst. Sie nahm ihr Handgepäck und ging auf die andere Seite des Flugsteigs hinüber, um so weit wie möglich von dem Abfalleimer weg zu sein. Aber sie konnte die Augen nicht davon abwenden.
    Der Gedanke, dass vielleicht ein Anschlag bevorstand, verdichtete sich immer mehr in ihrem Kopf. Sie stand als Erste bereit, um an Bord zu gehen, als die 747 ihre Türe öffnete. Bei einem Glas Sekt nach dem Start konnte sie sich endlich etwas entspannen. Sobald sie zu Hause in Baltimore war, würde sie den Fernseher einschalten. Sie war inzwischen fest davon überzeugt, dass sie dann von einem Blutbad auf dem Malpensa-Flughafen erfahren würde.
    Das Taxi zurück zum Hauptbahnhof kostete

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