Die Begnadigung
nur Verschwendung von Zeit und Geld. Es wäre viel besser gewesen, ihn nach London oder Sydney zu bringen, wo es Amerikaner zuhauf gab und wo jeder Englisch sprach. Er hätte viel leichter untertauchen können.
Da trat der Adressat seiner stillen Schelte an seine Seite. »Ach, buongiorno, Luigi. Sind Sie mir mal wieder auf den Fersen?«
»Nein. Ich war spazieren und sah Sie zufällig auf der anderen Straßenseite. Ich liebe Schnee. Und Sie, Marco?«
In gemächlichem Tempo setzten sie ihren Weg zusammen fort. Marco wollte seinem Begleiter gern glauben, bezweifelte aber, dass das Treffen ein Zufall war. »Nun, er ist mir hier lieber als in Washington bei Feierabendverkehr. Darf ich Sie fragen, was Sie eigentlich den ganzen Tag tun, Luigi?«
»Selbstverständlich. Sie dürfen fragen, was Sie wollen.«
»Das dachte ich mir. Und sehen Sie, ich möchte mich über zwei Dinge beschweren. Eigentlich über drei.«
»Das überrascht mich nicht. Haben Sie schon einen Kaffee getrunken?«
»Ja, aber ich trinke gern noch einen.«
Luigi nickte in Richtung eines kleinen Cafés direkt vor ihnen. Sie traten ein und stellten fest, dass alle Tische besetzt waren, also gesellten sie sich zu der Menschentraube, die sich um die Bar scharte, und tranken ihren Espresso dort. »Also, schießen Sie los«, sagte Luigi mit leiser Stimme.
Marco beugte sich zu ihm, sodass ihre Nasen fast aneinander stießen. »Die ersten beiden Beschwerden hängen unmittelbar zusammen. Erstens, Geld. Es muss nicht viel sein, aber eine kleine Apanage würde ich sehr schätzen. Niemand ist gern pleite, Luigi. Es würde mir besser gehen, wenn ich ein wenig Geld in der Tasche hätte.«
»Wie viel?«
»Ach, ich weiß nicht. Es ist lange her, dass ich zuletzt Taschengeld ausgehandelt habe. Wie wäre es für den Anfang mit einhundert Euro die Woche? Damit kann ich Zeitungen, Magazine, was zu essen kaufen, also die wichtigsten Grundbedürfnisse stillen. Uncle Sam zahlt meine Rente, und dafür bin ich sehr dankbar. Genau genommen zahlt er ja schon seit sechs Jahren.«
»Sie könnten immer noch hinter Gittern sitzen.«
»Danke, dass Sie mich daran erinnern, Luigi.«
»Tut mir Leid, war nicht nett …«
»Hören Sie, Luigi. Ich bin recht zufrieden mit meiner Lage. Andererseits bin ich ein freier Mann und ein unbescholtener Staatsbürger eines freien Landes – welches, weiß ich manchmal nicht so genau –, und ich habe ein Recht darauf, respektvoll behandelt zu werden. Ich finde es unmöglich, mit leeren Taschen herumzulaufen, und ich finde es unmöglich, um Geld betteln zu müssen. Ich will einhundert Euro die Woche.«
»Ich werde sehen, was ich tun kann.«
»Danke.«
»Die zweite Beschwerde?«
»Ich brauche etwas Geld, um mir was zum Anziehen zu kaufen. Meine Füße sind eiskalt, weil ich nicht das passende Schuhwerk für dieses Wetter habe. Außerdem möchte ich einen dickeren Mantel und vielleicht ein paar Pullover.«
»Werde ich besorgen.«
»Nein, ich möchte das selbst machen, Luigi. Geben Sie mir etwas Bargeld, dann gehe ich einkaufen. Das ist nicht zu viel verlangt.«
»Ich werd’s versuchen.«
Sie brachten ein paar Zentimeter Abstand zwischen ihre Nasen und nahmen einen Schluck aus ihren Tassen.
»Drittens?«, fragte Luigi.
»Ermanno. Er verliert zunehmend das Interesse. Wir sind fast sechs Stunden am Tag zusammen, und der Unterricht fängt an, ihn zu langweilen.«
Luigi verdrehte entnervt die Augen. »Ich kann nicht einfach mit den Fingern schnippen und einen anderen Sprachlehrer herzaubern, Marco.«
»Unterrichten Sie mich doch. Ich mag Sie, Luigi, wir verstehen uns gut. Sie wissen selbst, dass Ermanno keine Lust mehr hat; er ist jung und will sein Studium wieder aufnehmen. Aber Sie wären ein guter Lehrer.«
»Ich bin kein Lehrer.«
»Dann finden Sie bitte jemand anders für mich. Ermanno will nicht. Ich fürchte, ich mache keine Fortschritte mehr.«
Luigi blickte zur Seite und beobachtete zwei ältere Herren, die gerade hereingekommen waren und an ihnen vorbeischlurften. »Ich denke, er geht sowieso weg«, sagte er. »Wie Sie schon sagten, er will sein Studium fortführen.«
»Wie lange wird mein Sprachkurs dauern?«
Luigi schüttelte den Kopf, um zu verdeutlichen, dass er keine Ahnung hatte. »Das habe ich nicht zu entscheiden.«
»Ich habe eine vierte Beschwerde.«
»Fünftens, sechstens, siebtens. Lassen Sie am besten alle hören, vielleicht kommen wir dann mal eine Woche ohne aus.«
»Sie kennen sie schon, Luigi. Es ist
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