Die Begnadigung
so etwas wie ein grundsätzlicher Einwand meinerseits.«
»Das hört sich nach Juristenjargon an.«
»Sie sehen zu viel amerikanisches Fernsehen. Ich möchte nach London. Dort leben zehn Millionen Menschen, die alle Englisch sprechen. Ich müsste nicht zehn Stunden am Tag damit verbringen, eine neue Sprache zu lernen. Verstehen Sie mich nicht falsch, Luigi. Ich liebe Italienisch. Je mehr ich mich damit beschäftige, desto schöner finde ich es. Aber, mal ehrlich, wenn Sie mich verstecken wollen, dann bringen Sie mich doch am besten an einen Ort, wo ich mich auch ohne Hilfe durchschlagen kann.«
»Ich kann mich nur wiederholen, Marco. Diese Entscheidungen treffe nicht ich.«
»Ich weiß, ich weiß. Hauptsache, Sie bleiben dran.«
»Gehen wir.«
Als sie das Café verließen, um ihren Spaziergang unter den Arkaden fortzusetzen, hatte das Schneetreiben zugenommen. Elegant gekleidete Geschäftsleute auf dem Weg zur Arbeit hasteten an ihnen vorbei. Auch frühe Käufer waren schon unterwegs, vor allem Hausfrauen, die zum Markt strebten. Die Straße war voll von Kleinwagen und Vespas, die um Stadtbusse und die sich immer höher auftürmenden Matschhaufen herumkurvten.
»Wie oft schneit es hier?«, fragte Marco.
»Nur ein paarmal im Jahr, und dann nicht viel, außerdem gibt es diese wunderbaren Bogengänge, die einen trocken halten.«
»Na, so ein Glück.«
»Manche sind eintausend Jahre alt. Es gibt hier mehr davon als in jeder anderen Stadt der Welt, wussten Sie das?«
»Nein. Ich habe wenig zu lesen, Luigi. Wenn ich etwas Geld hätte, könnte ich Bücher kaufen und mir solche Dinge anlesen.«
»Beim Mittagessen werde ich Geld für Sie dabeihaben.«
»Und wo wird das Mittagessen stattfinden?«
»Ristorante Cesarina, Via Santo Stefano, ein Uhr?«
»Wer könnte da Nein sagen?«
Als Marco das Cesarina fünf Minuten zu früh betrat, saß Luigi mit einer Frau an einem Tisch nahe beim Eingang. Sie unterbrachen ein offensichtlich ernstes Gespräch, als er näher trat. Die Frau stand widerstrebend auf und streckte ihm mit finsterer Miene eine schlaffe Hand hin, während Luigi sie als Francesca Ferro vorstellte. Sie war Mitte vierzig, attraktiv und vielleicht ein wenig zu alt für Luigi, der lieber jungen Studentinnen hinterhergaffte. Und sie strahlte eine würdevolle Gereiztheit aus. Marco verspürte unwillkürlich den Drang, sich zu entschuldigen. Verzeihung, dass ich hier zum Essen eingeladen bin.
Sie setzten sich, und Marco fielen zwei Zigarettenkippen im Aschenbecher auf. Luigis Wasserglas war fast leer. Die beiden saßen schon mindestens zwanzig Minuten hier.
»Signora Ferro ist Sprachlehrerin und Fremdenführerin«, sagte Luigi in klarem, deutlichem Italienisch.
» Sì « , erwiderte Marco kläglich in die Pause, die daraufhin entstand.
Er sah die Signora an und schenkte ihr ein Lächeln, das sie frostig erwiderte. Offenbar fand sie ihn jetzt schon langweilig.
Luigi fuhr auf Italienisch fort: »Sie ist Ihre neue Lehrerin. Ermanno wird Sie vormittags unterrichten, Signora Ferro nachmittags.«
Marco hatte alles verstanden und blickte Francesca mit aufgesetztem Lächeln an. » Va bene. «
»Ermanno möchte sein Studium nächste Woche wieder aufnehmen«, erklärte Luigi.
»Das dachte ich mir«, entgegnete Marco auf Englisch.
Francesca Ferro zündete sich wieder eine Zigarette an, schloss ihre vollen Lippen um den Filter und blies eine enorme Rauchwolke aus. »Und?«, sagte sie. »Wie steht es mit Ihrem Italienisch?« Ihre Stimme war tief und rau, zweifellos von vielen Jahren des Rauchens. Ihr Englisch war langsam, gewählt und vollkommen akzentfrei.
»Grauenvoll«, sagte Marco.
»Er macht sich gut«, widersprach Luigi. Der Kellner brachte eine Flasche Mineralwasser und verteilte drei Speisekarten. Die Signora verschwand hinter der ihren, und Marco tat es ihr nach. Es folgte eine längere Stille, in der jeder für sich seine Auswahl traf.
Als die Karten schließlich gesenkt wurden, wandte Francesca Ferro sich an Marco. »Ich möchte hören, wie Sie auf Italienisch bestellen.«
»Kein Problem«, erwiderte er. Er hatte etwas gefunden, das er sagen konnte, ohne ausgelacht zu werden. Der Kellner erschien mit Block und Stift. » Sì, allora, vorrei un’insalata di pomodori e una mezza porzione di lasagne. « Ich möchte einen Tomatensalat und eine halbe Portion Lasagne. Wieder einmal war er heilfroh, dass Lasagne, Spaghetti, Ravioli und Pizza längst zu internationalen Exportartikeln geworden waren.
»
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