Die Begnadigung
Jahre jünger als ich.«
»Die Umgangsformen sind hierzulande eben etwas strenger.«
»Das scheint mir auch so.«
Sie drückte ihre Zigarette aus, trank einen Schluck Cappuccino und ging zur Tagesordnung über. »Heute ist Ihr freier Tag, Mr Lazzeri. Deshalb haben wir englisch gesprochen. Ab morgen ist nur noch Italienisch erlaubt.«
»Völlig in Ordnung, ich möchte nur noch eines klarstellen: Sie tun mir hier keinen Gefallen, okay? Sie werden bezahlt. Es ist Ihr Beruf. Ich bin kanadischer Tourist und habe jede Menge Zeit. Wenn wir nicht miteinander auskommen, finde ich rasch jemand anders, der mich unterrichten kann.«
»Habe ich Sie beleidigt?«
»Sie könnten mehr lächeln.«
Ein leichtes Nicken, dann wurden ihre Augen plötzlich feucht. Sie sah aus dem Fenster. »Ich habe wenig, über das ich lächeln könnte.«
16
D ie Geschäfte in der Via Rizzoli öffneten samstags um zehn Uhr. Während Marco wartete, sah er sich die Auslagen in den Schaufenstern an. Er hatte fünfhundert Euro in der Tasche, fühlte sich jedoch ziemlich unsicher und musste sich immer wieder bewusst machen, dass er keine andere Wahl hatte, als irgendwo hineinzugehen und seine erste echte Einkaufserfahrung in Italien zu machen. Am Vorabend hatte er im Bett Vokabeln und Redewendungen gepaukt, bis er eingeschlafen war, aber als sich jetzt die Ladentür hinter ihm schloss, wünschte er sich nur noch einen netten jungen Verkäufer, der fließend Englisch sprach.
Der ältere Herr mit dem freundlichen Lächeln konnte natürlich kein Wort Englisch. Fünfzehn Minuten lang radebrechte und gestikulierte Marco mit Händen und Füßen, wobei er mit Kleidergrößen und Preisen schon ganz gut zurechtkam, dann verließ er den Laden mit einem Paar preisgünstiger, jugendlich wirkender Wanderschuhe, wie er sie bei schlechtem Wetter rund um die Universität häufiger gesehen hatte, und einer schwarzen, wasserdichten Winterjacke mit einer Kapuze, die sich in den Kragen einrollen ließ. In seiner Tasche waren noch dreihundert Euro. Sparen lautete jetzt die Devise.
Er eilte zurück in seine Wohnung, zog Schuhe und Jacke an und ging dann wieder los. Der Dreißig-Minuten-Weg ins Zentrum der Stadt dauerte eine Stunde, da er immer wieder Umwege und Schleifen machte. Er sah sich nie um, sondern schlüpfte hin und wieder in ein Café, um von drinnen die Passanten zu beobachten, oder bewunderte die Köstlichkeiten im Schaufenster einer Konditorei, wobei er in Wirklichkeit auf die Reflexionen in der Scheibe achtete. Wenn sie ihm wirklich folgten, durften sie nicht merken, dass er auf der Hut war. Außerdem musste er üben. Luigi hatte ihm mehr als einmal gesagt, dass er bald verschwinden werde und Marco Lazzeri dann auf sich allein gestellt sei.
Aber inwieweit konnte er Luigi überhaupt vertrauen? Weder Marco Lazzeri noch Joel Backman vertrauten irgendjemandem.
Am Bahnhof wurde er noch einmal kurz nervös, als er die vielen Menschen sah. Über ihre Köpfe hinweg studierte er die Anzeigetafel und schaute sich dann nach einem Fahrkartenschalter um, aus alter Gewohnheit nach englischsprachigen Hinweisen Ausschau haltend. Es gelang ihm schon viel besser, die Nervosität zu unterdrücken und einfach draufloszumachen. Er stellte sich an einer Schlange an, und als sich ein Fenster öffnete, trat er rasch hinzu und lächelte die kleine Dame hinter der Scheibe an. » Buongiorno « , sagte er, » vado a Milano. «
Ich fahre nach Mailand.
Sie nickte.
» Alle tredici e venti « , fuhr er fort. Um 13.20 Uhr.
» Sì, cinquanta euro « , erwiderte sie. Fünfzig Euro.
Er gab ihr einen Hundert-Euro-Schein, weil er Kleingeld haben wollte, dann nahm er im Weggehen das Ticket und klopfte sich im Geiste auf die Schulter. Bis zur Abfahrt blieb ihm eine Stunde, und so verließ er den Bahnhof und schlenderte die Via Boldrini entlang, bis er ein Café fand. Er bestellte ein Panino und ein Bier und genoss beides, während er beiläufig den Gehsteig beobachtete.
Der Eurostar kam fahrplanmäßig, und Marco schloss sich den zahlreichen Fahrgästen an. Es war seine erste Zugfahrt in Europa, und er wusste nicht genau, wie er sich verhalten musste. Beim Mittagessen hatte er seine Fahrkarte studiert und nichts gefunden, was auf eine Reservierung hingewiesen hätte. Die Platzwahl war offensichtlich frei, und so nahm er gleich den ersten freien Fensterplatz. Als sich der Zug um exakt 13.20 Uhr in Bewegung setzte, war sein Waggon etwa zur Hälfte besetzt.
Bald hatten sie Bologna hinter
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