Die Begnadigung
sich gelassen, und ländliche Gebiete huschten draußen vorbei. Die Bahnstrecke verlief parallel zur Autobahn 1, die Mailand mit Parma und Bologna verband und in der Verlängerung als A 14 Ancona und die gesamte Ostküste Italiens anschloss. Nach einer halben Stunde begann Marco der Blick aus dem Fenster bereits zu langweilen. Bei einer Geschwindigkeit von hundertsechzig Stundenkilometern ließ sich die Landschaft nicht genießen; alles war verschwommen, und das schönste Motiv war in Sekundenschnelle schon wieder verschwunden. Außerdem gab es an der Strecke ziemlich viele hässliche Fabriken.
Kein Wunder, dass sich außer ihm kein einziger Fahrgast im ganzen Waggon für die Aussicht interessierte. Alle über dreißig waren entspannt, ja, gelangweilt in Zeitungen und Magazine versunken, die jüngeren schliefen tief und fest. Nach einer Weile nickte auch Marco ein.
Er wurde vom Schaffner geweckt, der ihn in vollkommen unverständlichem Italienisch ansprach. Marco fing bei der zweiten oder dritten Wiederholung immerhin das Wort » biglietto « auf und streckte ihm rasch sein Ticket entgegen. Der Mann nahm es mürrisch, stanzte ein Loch hinein und gab es mit einem breiten Grinsen zurück, das sein Pferdegebiss entblößte.
Nach einer Stunde erklang eine Ansage aus dem Lautsprecher, in der Marco das Wort » Milano « zu hören glaubte, und die Aussicht begann sich schlagartig zu verändern. Der Zug hielt, fuhr wieder an, hielt wieder, während die Ausläufer der Stadt ihn in sich aufsogen. Dicht aneinander gedrängte Nachkriegsbauten glitten vorbei, zwischen denen sich breite, mehrspurige Straßen dahinzogen. Ermannos Stadtführer gab Mailands Bevölkerung mit vier Millionen an; es war eine wichtige Metropole, inoffizielle Hauptstadt des Nordens und Zentrum für Finanzen, Mode, Werbung und Industrie – selbstverständlich mit einem hübschen Zentrum samt Dom ausgestattet.
Die Gleise teilten und fächerten sich auf, als sie sich dem Hauptbahnhof näherten. Unter der weiten Kuppel hielt der Zug schließlich an. Überwältigt von der eindrucksvollen Größe der Halle stieg Marco aus. Auf dem Weg über den Bahnsteig zählte er mindestens ein Dutzend weitere Gleispaare; auf einigen warteten geduldig Züge auf ihre Fahrgäste. Am Ende des Bahnsteigs, mitten im Gewirr von tausenden ankommenden und abfahrenden Reisenden, blieb Marco stehen und studierte den Abfahrtsplan. Stuttgart, Rom, Florenz, Madrid, Paris, Berlin, Genf.
Ganz Europa zum Greifen nah, innerhalb weniger Stunden erreichbar.
Er folgte den Hinweisschildern Richtung Ausgang und ging zum Taxistand, wo er kurz anstehen musste, bevor er auf die Rückbank eines kleinen weißen Renaults rutschte. » Aeroporto Malpensa « , sagte er zu dem Fahrer. Sie schoben sich durch dichten Stadtverkehr, bis sie den Autobahnring erreichten. Nach zwanzig Minuten nahmen sie die Abfahrt Richtung Flughafen. » Quale compagnia aerea? « , fragte der Fahrer über die Schulter. Welche Fluglinie?
»Lufthansa«, erwiderte Marco. Vor dem Terminal zwei fuhren sie in eine Parklücke am Straßenrand, und Marco wurde erneut vierzig Euro los. Die automatischen Türen öffneten sich für eine wahre Flut von Reisewilligen, und Marco war froh, dass er kein Flugzeug erreichen musste. Er ging die Abfluginformationen durch und fand, was er suchte – einen Direktflug nach Washington-Dulles. Dann schlenderte er eine Weile herum, bis er den Abflugschalter von Lufthansa entdeckte. Eine lange Schlange wartete davor, aber dank der berühmten deutschen Tüchtigkeit ging die Abfertigung ziemlich schnell.
Als Erstes fiel ihm eine attraktive Rothaarige auf, schätzungsweise Mitte zwanzig und offenbar alleinreisend, was ihm besonders zusagte. Wer in Begleitung unterwegs war, wäre sicherlich eher versucht, über den komischen Typ am Flughafen und sein seltsames Anliegen zu reden. Die Rothaarige stand am Businessclass-Schalter als Zweite in der Schlange. Während er sie beobachtete, entdeckte er auch schon Nummer zwei: einen in Jeans gekleideten Studenten, unrasiert, mit ungepflegten langen Haaren, einem abgerissenen Rucksack und einem Sweatshirt von der Universität Toledo. Perfekt. Er stand ziemlich weit hinten in der Schlange und hatte leuchtend gelbe Kopfhörer auf den Ohren.
Marco folgte der Rothaarigen, als sie mit Bordkarte und Handgepäck den Schalter verließ. Bis zum Abflug waren es noch zwei Stunden, und so schlenderte sie durch die Menge zum Dutyfreeshop, wo sie die neuesten Schweizer Uhren
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