Die Begnadigung
hatte, denn sonst hätte er sich schon vor Wochen gemeldet. Warum war er in Italien? Und warum war der Brief in York, Pennsylvania, aufgegeben worden?
Neals Frau hatte ihren Schwiegervater noch nie gesehen. Er war schon zwei Jahre im Gefängnis gewesen, als sie sich kennen gelernt und geheiratet hatten. Sie hatten ihm Fotos von der Hochzeit geschickt und später eines von ihrem Kind, Joels zweiter Enkeltochter.
Joel war ein Thema, über das Neal ausgesprochen ungern sprach. Oder nachdachte. Er war ein lausiger Vater gewesen und hatte in Neals Kindheit vor allem durch Abwesenheit geglänzt. Sein erstaunlich tiefer Fall hatte alle, die ihm nahe standen, peinlich berührt. Neal hatte ihm widerwillig Briefe und Karten ins Gefängnis geschrieben, aber er würde sich und auch seine Frau belügen, wenn er behauptete, seinen Vater zu vermissen. Im Grunde genommen kannte er ihn ja gar nicht.
Und jetzt war er wieder da und bat um Geld, das Neal nicht hatte. Er ging einfach davon aus, dass Neal genau das tun würde, worum er ihn gebeten hatte, und nahm sogar in Kauf, dass sein Sohn dabei in Gefahr geriet.
Neal ging zu seinem Schreibtisch und las den Brief ein zweites, dann ein drittes Mal. Es war das gleiche, schwer entzifferbare Gekrakel, das ihn sein ganzes Leben lang begleitet hatte. Und genau die Methode, die sein Vater auch früher schon verwendet hatte, egal, ob zu Hause oder im Büro. Tu das, tu dies, und alles wird gut. Tu es so, wie ich es will, und tu es sofort! Beeil dich! Riskier alles, weil ich dich brauche.
Und wenn alles wie gewünscht lief und sein Vater zurückkam? Er würde mit Sicherheit keine Zeit für Neal und seine Enkelin haben. Wenn er die Chance dazu bekam, würde Joel Backman wieder einen rasanten Aufstieg in Washingtons Machtkreisen hinlegen. Er würde sich die richtigen Freunde suchen, die richtigen Mandanten an sich binden, die richtige Frau heiraten, die richtigen Partner finden und innerhalb eines Jahres wieder in einem riesigen Büro sitzen, wo er exorbitante Honorare berechnen und Kongressabgeordneten auf die Nerven gehen konnte.
Das Leben war um einiges einfacher gewesen, als sein Vater noch im Gefängnis gesessen hatte.
Was sollte er Lisa, seiner Frau, sagen? Liebling, die zweitausend Dollar auf unserem Sparbuch sind gerade verplant worden. Außerdem brauche ich noch ein paar hundert Mäuse für ein verschlüsseltes E-Mail-System. Und du und die Kleine solltet den ganzen Tag die Tür verriegeln, da unser Leben ab jetzt erheblich gefährdeter sein wird.
Da dieser Tag sowieso im Eimer war, drückte Neal auf die Gegensprechanlage und bat seine Sekretärin, keine Anrufe mehr durchzustellen. Dann streckte er sich auf dem Sofa aus und streifte die Schuhe ab. Er schloss die Augen und fing an, sich die Schläfen zu massieren.
18
I n dem schmutzigen kleinen Krieg zwischen der CIA und dem FBI setzten beide Seiten aus taktischen Gründen des Öfteren Journalisten ein. Durch die Manipulation der Presse ließen sich Präventivschläge ausführen, Gegenangriffe abschwächen, Rückzüge verschleiern, ja, sogar Schadensbegrenzungen durchsetzen. Dan Sandberg pflegte seine Quellen auf beiden Seiten seit fast zwanzig Jahren und ließ sich bereitwillig benutzen, wenn die Informationen korrekt waren – und er sie exklusiv bekam. Er übernahm auch gern die Rolle eines Kuriers, der mit großer Vorsicht unbestätigte Gerüchte zwischen den Armeen hin- und hertrug, um herauszufinden, wie viel die andere Seite wusste. Da er gehört hatte, dass das FBI gerade einem Skandal auf der Spur war, bei dem es um erkaufte Straferlasse ging, setzte er sich mit seiner zuverlässigsten Quelle bei der CIA in Verbindung. Wie üblich stieß er erst einmal auf Granit, was sich nach nicht einmal achtundvierzig Stunden jedoch änderte.
Sein Kontakt in Langley war Rusty Lowell, ein viel beschäftigter Mann in ständig wechselnden Positionen. Für was auch immer man ihn bezahlte, im Grunde genommen war es seine Aufgabe, die Presse im Auge zu behalten und Teddy Maynard Hinweise darauf zu liefern, wie man sie gebrauchen und missbrauchen konnte. Lowell war kein Verräter und gab auch nichts weiter, das nicht stimmte. Sandberg kannte ihn schon seit Jahren, und inzwischen war er sich einigermaßen sicher, dass fast alles, was Lowell ihm zuspielte, von Maynard selbst in Umlauf gebracht wurde.
Sie trafen sich in einem Einkaufszentrum in Tyson’s Corner, gleich hinter dem Beltway in Virginia gelegen, in einer billigen Pizzeria auf der
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