Die Begnadigung
er aus einem Bettlaken herausgezogen hatte und jeden Tag benutzte. Dann feuchtete er beide Enden an, wobei er so viel Speichel wie möglich auf dem Faden hinterließ, und presste das eine Ende unter den Boden der letzten Schublade. Das andere Ende kam seitlich an den Korpus der Kommode, sodass der unsichtbare Faden heruntergerissen wurde, wenn die Schublade bewegt wurde.
Denn jemand – Luigi, wie er annahm – betrat dieses Zimmer jeden Tag, während er Unterricht bei Ermanno oder Francesca hatte, und durchsuchte die Schubladen.
Sein Schreibtisch stand in dem kleinen Wohnzimmer, unter dem einzigen Fenster. Dort bewahrte er Zeitungen, Notizblöcke und Bücher auf: Ermannos Stadtführer für Bologna, einige Ausgaben der Herald Tribune, eine triste Sammlung kostenloser Einkaufsführer, die ihm Zigeuner auf der Straße in die Hand gedrückt hatten, sein inzwischen recht abgenutztes Wörterbuch Italienisch-Englisch und den stetig wachsenden Stapel von Übungsmaterial, mit dem Ermanno ihn Tag für Tag überschüttete. Auf dem Schreibtisch herrschte ein leichtes Chaos, was ihn ärgerte. Auf seinem alten Schreibtisch, der größer gewesen war als so manches Wohnzimmer, hatte stets peinliche Ordnung geherrscht. Eine seiner Sekretärinnen hatte ihn jeden Nachmittag aufgeräumt.
Doch hinter dem Chaos steckte ein System. Die Platte des Schreibtisches war aus einem Hartholz, das im Lauf der Jahrzehnte zerkratzt und abgeschabt worden war.
Auf dem Holz befand sich ein kleiner Fleck, von dem Marco annahm, dass es Tinte war. Er war in etwa so groß wie ein kleiner Knopf und war fast genau in der Mitte des Schreibtisches. Jeden Morgen schob Marco die Ecke eines Blatt Notizpapiers genau auf die Mitte des kleinen Tintenflecks, was nicht einmal den gewissenhaftesten Spionen aufgefallen wäre.
Den anderen sowieso nicht. Wer auch immer sich zur täglichen Wohnungsdurchsuchung hereinschlich, war nicht ein einziges Mal so umsichtig gewesen, Blätter und Bücher exakt auf ihre ursprüngliche Position zurückzulegen.
Jeden Tag, sieben Tage die Woche, selbst an den Wochenenden, an denen kein Unterricht stattfand, kamen Luigi und seine Leute herein und verrichteten ihre schmutzige Arbeit. Marco war dabei, einen Plan auszutüfteln, der vorsah, dass er an einem Sonntagmorgen mit heftigen Kopfschmerzen aufwachte, Luigi anrief, der immer noch der Einzige war, den er mit seinem Mobiltelefon kontaktierte, und ihn bat, ihm ein paar Aspirin – oder was immer man in solchen Fällen in Italien benutzte – aus der Apotheke vorbeizubringen. Er würde so tun, als müsste er sich schonen und im Bett bleiben, kein Licht in der Wohnung machen und am späten Nachmittag Luigi wieder anrufen und verkünden, dass es ihm schon viel besser gehe und er etwas zu essen brauche. Sie würden wie üblich in einem Restaurant um die Ecke eine Kleinigkeit essen. Dann wollte Marco unter dem Vorwand, es ginge ihm ganz plötzlich wieder schlechter, in die Wohnung zurückkehren. So würde er kaum eine Stunde fort sein.
Würde jemand anders die Wohnung durchsuchen?
Der Plan nahm Gestalt an. Marco wollte wissen, von wem er noch beobachtet wurde. Wie groß war das Netz? Wenn es ihnen nur darum ging, ihn am Leben zu halten warum durchsuchten sie dann jeden Tag seine Wohnung? Wovor hatten sie Angst?
Sie hatten Angst, dass er verschwand. Aber warum war das ein Problem für sie? Er war ein freier Mann und hatte daher auch das Recht, sich frei zu bewegen. Seine Tarnung war gut. Seine Italienischkenntnisse waren rudimentär, aber er kam zurecht und wurde mit jedem Tag besser. Was kümmerte es sie, wenn er fortging? In einen Zug stieg und irgendwohin fuhr? Nicht zurückkam? Würde ihnen das das Leben nicht erheblich einfacher machen?
Und warum hielten sie ihn an der kurzen Leine, ohne Pass und mit wenig Geld?
Sie hatten Angst, dass er verschwand.
Er schaltete das Licht aus und öffnete die Tür. Draußen in den Bogengängen der Via Fondazza war es noch dunkel. Er sperrte die Tür hinter sich ab und machte sich auf die Suche nach einem Café, das so früh am Morgen schon geöffnet war.
Luigi hinter der mächtigen Mauer wurde durch einen Summer geweckt, der irgendwo in der Wohnung angesprungen war und ihn fast jeden Morgen zu einer solch unchristlichen Zeit weckte.
»Was ist das denn?«, fragte Simona.
»Nichts«, erwiderte er, während er die Bettdecke in ihre Richtung aufschlug und nackt aus dem Raum taumelte. Er lief durch das Arbeitszimmer zur Küche, schloss die Tür
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