Die Begnadigung
fotografiert worden war. Schließlich gelang es Marco, so nah an Francesca heranzukommen, dass er Augenkontakt herstellen konnte. Als sie ihn sah, lächelte sie automatisch und sagte leise: » Buongiorno. «
» Buongiorno. Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich mich der Gruppe anschließe?«, fragte er auf Englisch.
»Nein, natürlich nicht. Tut mir Leid, dass der Unterricht ausgefallen ist.«
»Das macht doch nichts. Darf ich Sie zum Abendessen einladen?«
Sie sah sich um, als hätte sie gerade etwas Verbotenes getan. »Natürlich nur, um den Unterricht nachzuholen«, sagte er schnell.
»Nein, tut mir Leid«, erwiderte sie. Ihr Blick ging an ihm vorbei über die Piazza, an der die Basilica di San Petronio stand. »Sehen Sie das kleine Café dort drüben?«, fragte sie. »Neben der Kirche, an der Ecke. Warten Sie dort um fünf auf mich, dann machen wir noch eine Stunde Unterricht.«
» Va bene. «
Die Reisegruppe ging ein paar Schritte zur Westmauer des Palazzo Comunale, wo Francesca die Senioren vor drei großen Wandkästen mit Schwarzweißfotos versammelte. Die Lektion in Geschichte handelte davon, dass Bologna und die umliegende Region im Zweiten Weltkrieg das Zentrum des italienischen Widerstands gewesen waren. Die Bologneser hatten Mussolini, dessen Faschisten und die deutschen Besatzer gehasst und aus dem Untergrund bekämpft. Die Nazis hatten furchtbare Rache genommen – nach einer allseits bekannten Regel waren für jeden vom Widerstand getöteten deutschen Soldaten zehn Italiener ermordet worden. Bei fünfundfünfzig Massakern in und um Bologna waren so tausende von jungen italienischen Widerstandskämpfern ums Leben gekommen. Ihre Namen und Gesichter hatte man an dieser Wand verewigt.
Es war ein ernster, düsterer Moment, und die Australier drängten sich um die Schaukästen, um sich die Widerstandskämpfer anzusehen. Auch Marco trat näher heran. Er war tief betroffen angesichts ihrer Jugend, angesichts der Tatsache, dass man ihnen ihre Zukunft geraubt hatte. Sie waren für ihre Tapferkeit hingerichtet worden.
Als Francesca mit der Gruppe weiterzog, blieb er zurück und starrte die Gesichter an, die den größten Teil der langen Mauer bedeckten. Es waren hunderte, vielleicht tausende. Hin und wieder das Gesicht einer hübschen Frau. Brüder, Väter und Söhne. Eine ganze Familie.
Bauern, die bereit gewesen waren, für ihr Land und ihre Überzeugung zu sterben. Treue Patrioten, die nichts außer ihrem Leben besessen hatten. Nicht so Marco. O nein. Als er zwischen Loyalität und Geld hatte wählen müssen, hatte er genau das getan, was er immer getan hatte. Er hatte sich für das Geld entschieden. Er hatte seinem Land den Rücken gekehrt.
Und das alles für den schönen Schein des Geldes.
Francesca stand hinter der Eingangstür des Cafés und wartete auf ihn. Sie hatte nichts bestellt, aber natürlich eine Zigarette in der Hand. Marco war sicher, dass sie sich nur deshalb noch so spät mit ihm traf, weil sie das Geld brauchte.
»Haben Sie Lust auf einen Spaziergang?«, fragte sie, noch bevor sie ihn begrüßte.
»Natürlich.« Er war am Morgen mehrere Kilometer mit Ermanno durch die Stadt gelaufen, dann wieder stundenlang nach dem Mittagessen, während sie mit ihrer Tour unterwegs gewesen war. Er war genug gelaufen für einen Tag, aber was konnte er in Bologna sonst schon machen? Nach einem Monat, in dem er jeden Tag mehrere Kilometer zurückgelegt hatte, war er mittlerweile recht gut in Form. »Wohin?«
»Es ist ziemlich weit«, antwortete sie.
Sie gingen durch die engen Straßen nach Südwesten, während sie sich langsam auf Italienisch unterhielten und über die Lektion sprachen, die Ermanno am Morgen durchgenommen hatte. Dann erzählte Francesca von den Australiern, die die ganze Zeit über freundlich und liebenswürdig gewesen seien. Als sie den Rand der Altstadt erreicht hatten und die Porta Saragozza in Sicht kam, wusste Marco, wo er war und welches Ziel sie hatte.
»Sie wollen hoch nach San Luca«, sagte er.
»Ja. Wir haben schönes Wetter, und am Abend wird es klar bleiben. Das ist doch kein Problem für Sie, oder?«
Seine Füße brachten ihn fast um, aber das hätte er nie im Leben zugegeben. » Andiamo « , sagte er.
Dreihundert Meter über der Stadt, auf dem Colle della Guardia, einem Ausläufer der Apenninen, wacht seit acht Jahrhunderten das Santuario della Madonna di San Luca über Bologna. Um die Wallfahrtskirche trockenen Fußes und unbehelligt von Hitze und grellem
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