Die Begnadigung
Sonnenschein erreichen zu können, beschlossen die Bologneser, das zu tun, was sie am besten konnten – sie errichteten einen Bogengang. Der Bau begann 1674 und dauerte ohne Unterbrechung fünfundsechzig Jahre. In dieser Zeit entstanden sechshundertsechsundsechzig Bögen über einem Gang, der sich 3,6 Kilometer hinzieht: der längste Laubengang der Welt.
Obwohl Marco sich mit der Stadtgeschichte beschäftigt hatte, waren die Details viel interessanter, wenn sie von Francesca erzählt wurden. Der Weg nach oben stieg stetig an. Nach einhundert Bögen fingen seine Waden an zu brennen. Sie dagegen schritt ungerührt weiter aus, als würde sie jeden Tag einen Berg besteigen. Er hoffte inständig darauf, dass die Mengen an Zigarettenrauch in ihren Lungen sie irgendwann bremsen würden.
Um das Geld für ein derart gewaltiges und ausgefallenes Projekt aufzubringen, hatte Bologna auf seinen beachtlichen Reichtum zurückgegriffen. In einer seltenen Geste der Eintracht unter den miteinander verfeindeten Fraktionen wurde jeder Bogen des Portikus von einer anderen Gruppe aus Händlern, Handwerkern, Studenten, Kirchen und Adelsfamilien finanziert. Um die Großzügigkeit der Spender für die Nachwelt zu dokumentieren und ihnen Unsterblichkeit zu sichern, wurde ihnen gestattet, Gedenktafeln an »ihrem« Bogen aufzuhängen, von denen allerdings die meisten im Laufe der Zeit wieder verschwanden.
Am hundertsiebzigsten Bogen, an dem eine der wenigen verbliebenen Gedenktafeln hing, legte Francesca eine kurze Pause ein. Die Tafel wurde la Madonna grassa genannt, »die beleibte Madonna«. Auf dem Weg nach oben gab es insgesamt fünfzehn Kapellen. Zwischen der achten und neunten Kapelle, wo eine Brücke über eine Straße gebaut worden war, blieben sie noch einmal stehen. Lange Schatten fielen zwischen die Bögen, während sie sich über den steilsten Teil des Weges nach oben mühten. »Wenn wir am Abend wieder hinuntergehen, wird der Gang beleuchtet sein«, versicherte sie ihm.
Marco dachte nicht an den Rückweg. Er starrte unverwandt nach oben, auf die Kirche, die manchmal zum Greifen nah schien und dann plötzlich den Eindruck erweckte, als würde sie sich ein Stück von ihnen fortschleichen. Inzwischen taten ihm auch die Oberschenkel weh, und seine Schritte wurden immer schwerer.
Als sie die Spitze des Hügels erreicht hatten und unter dem sechshundertsechsundsechzigsten Bogen hervortraten, lag die prächtige Basilika direkt vor ihnen. Da in den Hügeln über Bologna die Dämmerung eingesetzt hatte, waren die Scheinwerfer eingeschaltet worden, und die Kuppel der Wallfahrtskirche schimmerte in verschiedenen Goldtönen. »Sie ist schon geschlossen«, sagte Francesca. »Wir werden ein andermal wiederkommen müssen.«
Auf dem Weg nach oben hatte er einen flüchtigen Blick auf einen Bus erhascht, der langsam den Hügel hinuntergefahren war. Für den Fall, dass er tatsächlich noch einmal nach San Luca wollte, um sich dort eine weitere der zahllosen Kirchen Bolognas anzusehen, würde er mit Sicherheit den Bus nehmen.
»Hier entlang.« Francesca winkte ihn zu sich. »Ich kenne einen Geheimweg.«
Er folgte ihr auf einen Kiesweg, der hinter der Kirche zu einem Aussichtspunkt führte, wo sie stehen blieben und auf die Stadt unter sich blickten. »Das ist mein Lieblingsplatz«, sagte sie, während sie in tiefen Zügen die Luft einsog, als wollte sie die Schönheit Bolognas einatmen.
»Wie oft kommen Sie hierher?«
»Mehrmals im Jahr, für gewöhnlich mit Gruppen. Sie nehmen immer den Bus. Und manchmal mache ich sonntagnachmittags einen Spaziergang hier hoch.«
»Allein?«
»Ja, allein.«
»Könnten wir uns irgendwo hinsetzen?«
»Ja, dort drüben steht eine kleine Bank, die ganz versteckt liegt. Niemand weiß davon.« Er folgte ihr einige Treppenstufen nach unten und dann auf einem felsigen Pfad zu einem anderen Aussichtspunkt, von dem man einen genauso spektakulären Blick auf die Stadt hatte.
»Tun Ihnen die Beine weh?«, fragte sie.
»Natürlich nicht«, log er.
Sie zündete sich eine Zigarette an und zog mit einem so offensichtlichen Vergnügen daran, wie man es nur noch selten sah. Lange Zeit saßen sie schweigend nebeneinander, ruhten sich aus, dachten nach und starrten auf die glitzernden Lichter von Bologna.
Schließlich brach Marco die Stille. »Luigi hat mir erzählt, dass Ihr Mann sehr krank ist. Das tut mir wirklich Leid.«
Sie sah ihn überrascht an und wandte dann den Blick ab. »Luigi hat mir verboten, über
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