Die Begnadigung
hochkroch.
Er breitete die Arme aus, ganz weit, und atmete tief durch. In seiner Brust stach und bohrte es.
Auf der Bühne brüllte jetzt Wottke als Löwe. Die Szene mit dem eingetretenen Dorn begann. Es war ein dumpfes, herrliches Löwengebrüll … ohne Gebiß ging es viel besser!
Atmen, dachte der Malermeister. Tief atmen … und wenn es noch so sehr in der Brust sticht. Draußen sitzen sechzig Menschen, die kränker sind als ich …
Nach dem ersten Akt quoll der Beifall spontan auf. Während sich Vindrich und die Darstellerin der Megära verbeugten, raste Wottke hinter die Bühne und schrie nach seiner Frau. »Auftrennen!« brüllte er. »Lisbeth … her mit der Schere …« Er war tief beleidigt. Vindrich hatte ihn, den schlafenden Löwen, als Androklus in den Hintern getreten. Das stand nicht im Textbuch und nicht in der Regieanweisung. Aber es war ein Gag, über den die Zuschauer schallend gelacht hatten. Selbst Lisbeth hatte in die Hände geklatscht.
Aber niemand kam, ihn aus dem Fell zu trennen. Nur Regisseur Bertrich rollte sich auf seinem fahrbaren Stuhl hinter die Bühne und zischte: »Halten Sie den Mund, Wottke! Sie bleiben im Fell bis zum letzten Akt … man kann Sie nicht dauernd einnähen!«
Schwitzend, durch das Maul des Löwenfells nach Luft schnappend, hockte Wottke auf einem Schemel hinter dem Rundhorizont der Bühne und hörte den Applaus.
Ein Gongschlag. Der zweite Akt. Die gefangenen Christen marschierten auf die Bühne. Der Malermeister stützte sich auf seinen Stock, den er als Centurio tragen mußte. Er warf einen Blick hinunter in den Zuschauerraum … die Bettengalerie in der ersten Reihe, die blassen, aber lächelnden Gesichter, die großen, aufgerissenen Augen, die noch einmal das kleine Wunder der Bühne begreifen, bevor sie vielleicht für immer verlöschen … Da straffte er sich und sagte seinen ersten Satz. Mit klarer, ungehemmter Stimme, mit einer Kraft, die ihn plötzlich ergriff und sogar das Stechen in der Brust überwand. Er sah die Kulissen des alten Rom um sich, und er war der Centurio, der die Christen ermahnte, nicht so lustig in den Tod zu gehen.
Schon nach den ersten Sätzen, im Gelächter der Zuschauer, rannte Dr. Summring hinter die Bühne. Dort stieß er auf Regisseur Bertrich, der in seinem Rollstuhl hockte und unendlich glücklich war.
»Mein letztes Stück, Herr Doktor«, sagte er leise, als sich Summring zu ihm niederbeugte. »Mein Abgang mit einer Komödie … so sollte es immer sein …«
»Wir müssen Herrn Paulus von der Bühne nehmen«, sagte Dr. Summring. »Sehen Sie nicht, daß er unfähig ist, weiterzuspielen?«
»Pst!« Bertrich legte den Finger auf die Lippen. »Es ist unmöglich, mitten im Stück …«
»Als Arzt verlange ich …«
»Er spielt doch wunderbar!«
»Aber sein Gesicht! Sein Atem!«
»Das gehört zur Rolle. Paulus hat sich wunderbar eingelebt.«
»Ich unterbreche!« Dr. Summring wollte auf die Bühne stürzen, aber Bertrich klammerte sich an ihn und hielt ihn an der Jacke fest. »Lassen Sie los«, zischte Dr. Summring. »Der Chef will …«
»Auf der Bühne bin ich der Chef!« In Bertrichs Augen glühte es gefährlich. Wie Wahnsinn breitete es sich über sein Gesicht aus. Er krallte die Finger in Dr. Summrings Kleidung und hielt ihn fest. »Er spielt wie ein großer, gelernter Schauspieler! Er hat eine teuflische Begabung, dieser Paulus. Sehen Sie nur … wie er müde niedersinkt … wie er erschöpft die Augen schließt … das ist gekonnt …«
»Sie Idiot!« rief Dr. Summring. Er schlug auf die Hände Bertrichs, um sich zu befreien. »Sehen Sie denn nicht …«
Malermeister Paulus stand wieder auf, wie es seine Rolle verlangte, und stellte sich dem Hauptmann-Darsteller in den Weg.
»Der Kaiser? Wo ist der Kaiser? Du bist doch nicht der Kaiser?«
Über die Bühne rollte ein Karren mit einem Käfig. In ihm hockte Wottke als Löwe. Auch er sah, wie der Centurio nach Luft rang. Sein Bronchialkarzinom, dachte Wottke. Mein Gott … der Mann stirbt ja. Er stirbt auf der Bühne. Er rüttelte an den Gitterstäben und randalierte: »Aufmachen! Aufmachen!«
Im Saal brüllten die Zuschauer vor Lachen. Dieser Wottke! Eine tolle Nudel!
Malermeister Paulus umklammerte seinen Stab. Mit letzter Kraft erhob sich seine Stimme.
»Was!« schrie er. »Nach dir sollen wir einziehen in deinem Staub, wenn die halbe Stadt hinter dir und deinem Löwen herrennt? Nicht daran zu denken! Wir gehen voran.«
Das ›voran‹ war nur noch wie ein
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