Die Begnadigung
nachgesehen?« fragte er.
Die Schwester schüttelte den Kopf. »Nein, Herr Oberarzt«, stammelte sie.
»Bitte.« Er schlug die Decke seitlich auf.
Da sahen sie es.
»Ist der Chef verständigt?« fragte Färber bitter.
»Ich habe den Alarm durchgestellt. Er wollte es so …«
Der wachhabende Arzt setzte sich müde. Mit großen Augen starrte er auf das Vergehen der jungen Frau, die in ihrem Blut lag. Noch atmete sie, aber es war ein Wegflattern.
»Was … was sollen wir denn tun, Herr Dozent …?«
»Hier? Nichts. Doch ja … beten wir … Gott, verzeih uns. Immer und immer wieder … Gott, verzeih uns … Das ist alles, was wir tun können.«
Zehn Minuten später war Professor Runkel in der Klinik. Er stürzte aus dem Aufzug und rannte in Zimmer zwei. Um das Bett standen die Schwester, der Wachhabende und Dr. Färber. Die Decke war noch zurückgeschlagen. Es war eine stumme Demonstration. Runkel sah kurz hin. Er brauchte keine Erklärungen. Die Ligaturen und Nähte hatten in dem morschen Gewebe nicht mehr gehalten.
»Exitus vor fünf Minuten«, sagte Färber leise. »Todesursache …«
»Kommen Sie mit, Färber.« Runkel senkte den Kopf und verließ das Zimmer. Auf dem Flur wartete er auf seinen Oberarzt. Er sah ihn groß an, abtastend. »Nun sind Sie wohl sehr stolz, was?« fragte er leise. »Sie haben Ihren Lehrer blamiert. Aber Sie werden bestätigen müssen, daß hier nichts mehr zu retten war. Die Notoperation …«
»Notoperation, Herr Professor?«
»Ich wollte ihr ein Jahr schenken. Ich …« Runkel sah Färber fast bittend, ja flehend an. Färber blickte zur Seite. Er konnte diesen Blick nicht mehr ertragen.
»Ich weiß, daß man Hansen wegen fahrlässiger Tötung anklagen will. Und Sie sollen als Gutachter auftreten, Herr Professor.«
Runkels Kopf sank noch tiefer. Ein kleiner, alter Mann stand im halbdunklen Gang seiner Klinik. Hinter seinem Rücken knirschten die Gummiräder eines Wagens. Die Schwester fuhr die Tote aus dem Zimmer, hinüber zum Aufzug, der das Bett hinunter in den Eiskeller bringen würde.
»Wir sprechen morgen darüber.« Runkel reichte Färber die Hand. Eine müde, faltige, kraftlose Greisenhand. »Schreiben Sie den Totenschein aus, Färber. Schreiben Sie: Herzinsuffizienz … Das war es doch?«
»Ja, Herr Professor …«
Für den nächsten Tag war Oberstaatsanwalt Dr. Barthels bei Professor Runkel angemeldet.
Runkel hatte sich in der Nacht wieder erholt. Er thronte hinter seinem Schreibtisch, hatte den abschließenden Krankenbericht unterschrieben, den Dr. Färber ihm eingereicht hatte, war nach einigem Zögern mutig genug, den Ehemann der Toten anzurufen und ihm mitzuteilen, daß die Schwere der Erkrankung leider … Das Menschenmögliche sei getan worden. Sechs Ärzte hätten um das Leben gekämpft. Aber das Schicksal sei nun einmal stärker … Der Fabrikant hatte es mit Fassung getragen und um die Rechnung gebeten. Im Augenblick war sich Runkel noch nicht mit sich einig, ob er sie ausschreiben lassen oder auf die dreitausend Mark verzichten sollte.
Schon bei der Begrüßung mit dem Oberstaatsanwalt ahnte er, daß etwas falsch gelaufen war. Fast beruhigte es ihn, daß Hansen unangreifbar sein könnte. Sollten sich Bongratzius und Lücknath mit ihm herumschlagen … in zwei Jahren emeritierte er sowieso, und dann war alles gleichgültig, was außerhalb seines Villengartens geschah.
»Wir haben die Ermittlungen begonnen«, sagte Oberstaatsanwalt Dr. Barthels und setzte sich in einen der Ledersessel. »Ich habe die ›See-Klinik‹ besichtigt und bin auf einen Todesfall gestoßen, der symptomatisch ist für diese merkwürdige Therapie. Stirbt ein Patient mit Bronchialkarzinom, weil ihn dieser Hansen Theater spielen läßt … Das Merkwürdigste aber daran sind die Röntgenplatten, die er mir vorlegte. Ich habe sie prüfen lassen: Es sind gar nicht die letzten Röntgenaufnahmen des Patienten! Hansen hat bewußt bessere Aufnahmen eines anderen Patienten untergeschoben, um …«
»Um Theater spielen zu lassen?« Runkel lächelte milde. »Das klingt mir verdächtig nach Moritat.«
»Er hat die Verwandtschaft damit getäuscht!«
»Ist das sicher?«
»Völlig sicher. Ich habe die Hinterbliebenen aufgesucht. Er hat dem Bruder und der Gattin des Verstorbenen noch acht Tage vor dem Tod anhand der Platten bewiesen, daß das Bronchialkarzinom in der Auflösung begriffen ist …«
Runkel wurde mobil. »Hat er wörtlich gesagt: In Auflösung begriffen?«
»Ja …«
Dieser
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