Die Begnadigung
Er beging einen medizinischen Selbstmord, und er bemerkte es nicht einmal.
»Vielleicht sind Ihre Kollegen Professor Lücknath und Professor Bongratzius zugänglicher!« Dr. Barthels schloß seine Aktenmappe und klemmte sie unter den Arm. »Auf jeden Fall war unser Gespräch sehr aufschlußreich. Ich habe einen Überblick über die große Problematik gewonnen!«
»Das freut mich! Was werden Sie tun, Herr Oberstaatsanwalt?«
Dr. Barthels wandte sich zur Tür. »Es ist nicht üblich, über schwebende Untersuchungen Auskünfte zu geben …«
Professor Runkel lächelte, als die Tür hinter Barthels zuklappte. Er ist beleidigt, dachte er. Er wittert einen Sensationsprozeß, aber wo er hingreift, rutschen ihm die Beweise aus den Händen wie nasse Seife.
Der Hausapparat schnurrte. Runkel drückte die Taste herunter.
»Herr Doktor Wüllner wartet noch im Vorzimmer«, sagte die Sekretärin.
»Ach ja. Der Wüllner.« Runkel wölbte die Unterlippe vor. »Schicken Sie ihn rein … und in zehn Minuten rufen Sie an, daß ich zu einer Privatkonsultation muß. Nein … in sieben Minuten.«
Er drückte die Sprechtaste auf aus und setzte sich.
Ein Mensch, den man nicht mehr braucht, wird uninteressant.
Der Zustand Marianne Pechls war hoffnungslos. Das Melanom hatte sich vergrößert, zwar langsamer, als man es erwartet hatte, aber es wuchs und wuchs und streute weitere Metastasen aus … in die Brustwirbel, in die Beine, in den Nacken.
Dr. Hansen, Frau Wottke, Karin und Dr. Summring wachten abwechselnd an ihrem Bett. Es hatte wenig Sinn mehr, Marianne noch mit einer umfangreichen Therapie zu quälen und damit zu schwächen … als die Schmerzen zu wild wurden, als sie mit den Zähnen knirschte und schließlich aufschrie, voll Qual, Angst und Lebensnot, ordnete Hansen Morphium an, mit dem er sonst sehr sparsam umging. Marianne sollte in den letzten Tagen oder Wochen das Gefühl haben, das Sterben sei wie ein Wegschweben in eine schönere, freiere Welt.
In den wenigen Stunden ihrer geistigen Klarheit – später waren es nur noch Minuten – führte sie gewissenhaft ihr Tagebuch weiter.
Bis ins kleinste schilderte sie die Therapie, die Hansen bei ihr anwendete. Sie beschrieb die vorübergehende Besserung, den schnellen Zusammenbruch und schließlich das Warten auf die Erlösung.
Ihre letzte Eintragung war Hansen gewidmet.
»Möge er immer die Kraft haben, einen Atemzug länger zu leben als seine Widersacher. Das genügt uns schon, uns Sterbenden … ein Atemzug mehr … ein Blick mehr in die Sonne, in den Garten, über den See mit den weißen Segeln, über die Blumen, in das wiegende Grün der Baumwipfel … Kein Gold dieser Erde reicht aus, diesen Blick zu bezahlen. Und daß er mir gewährt, geschenkt war, viele, viele Blicke mehr … dafür danke ich Hansen über mein Grab hinaus …«
Als sie das hingekritzelt hatte, war ihr der Kugelschreiber aus der Hand gefallen. Wahnsinnige Schmerzen durchjagten ihren Kopf, den Rücken, das Becken. Sie schrie … schrie mit blauen Lippen und hervorquellenden Augen.
Dr. Summring gab ihr die betäubende Morphiuminjektion. Dann ging ein erlösendes Seufzen durch den gequälten Körper … er streckte sich, die verkrallten Finger lösten sich, und im Dämmerzustand lag Marianne, starrte mit geweiteten, ausdruckslosen Augen an die Decke und träumte von einem schwingenden Wiegen, von einer Schwerelosigkeit, die nichts mehr kannte als die Sehnsucht, daß es immer so bleiben möge.
An einem Maimorgen starb Marianne Pechl.
Bis zuletzt saß Dr. Hansen mit Karin an ihrem Bett. Noch kurz bevor sie die Augen für immer schloß, hatte er ihr einige Bluttransfusionen gegeben.
»Warum tust du das, Jens?« fragte Karin leise, als sie die Blutkonserve abnahm. »Sie weiß doch gar nicht mehr, daß sie noch lebt …«
Hansen schwieg. Der Tod Marianne Pechls war ein anderes Sterben als das der vielen anderen Patienten, die bisher die ›See-Klinik‹ in eichenen Särgen verlassen hatten. Mit Marianne verlor Hansen einen Teil seines Glaubens an sich selbst. Er wollte es sich nicht eingestehen, aber in den Nächten, in denen er allein neben ihrem Bett saß, hatte er Zeit genug gehabt, seine Idee von der Ganzheitsbehandlung des Karzinoms immer und immer wieder durchzudenken.
Erschrocken hatte er dann festgestellt, daß selbst er nicht einmal einen festumrissenen Begriff von der Entstehung des Krebses hatte, daß er in Annahmen und Theorien lebte und daß seine Therapie nicht mehr als ein
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