Die Begnadigung
Sie wissen, er wird keine Woche mehr leben. Und dieser Mensch klammert sich an einen Gedanken: In der Heide lebt ein Gesundbeter. Er hat oft geholfen. Warum nicht mir? Holen Sie ihn doch, Doktor! Was würden Sie tun, Herr Barthels? Würden Sie sagen: Nein, das ist Quatsch! Sterben Sie so … O nein, Herr Oberstaatsanwalt … ich habe ihnen diesen letzten Wunsch erfüllt. Ich habe den Rutengänger geholt und gezeigt, daß es keine Erdstrahlen gibt in der ›See-Klinik‹. Ich habe den Gesundbeter geholt, und er hat eine Nacht lang gebetet, und der Sterbende war glücklich.«
»Es war Ihre Pflicht, den Kranken zu sagen …« Barthels schwieg sofort, als Hansen heftig den Kopf schüttelte.
»O nein! Arzt sein, heißt nicht, die Patienten von einem Aberglauben zu befreien. Arzt sein, heißt, im hippokratischen Sinne, Helfer und Heiler sein, wobei das Helfen oft noch wichtiger ist als das Heilen! Und ich habe ihnen geholfen, seelisch geholfen, indem ich ihnen ihren Glauben an die allerletzte Chance nicht nahm, sondern mit ihnen, wie sie meinten, daran glaubte.«
»Das wird Ihnen keiner abnehmen!«
»Das verlange ich auch nicht.« Hansen legte ein dickes Aktenstück auf den Schreibtisch. Mißtrauisch betrachtete es Dr. Barthels. »Sie haben die Leiche Fräulein Pechls beschlagnahmen lassen. Der tote Körper nutzt Ihnen nicht viel. Hier ist die gesamte Krankengeschichte. Es steht alles drin, auch mein Versagen …«
Oberstaatsanwalt Dr. Barthels atmete schwer. »Sie geben zu, versagt zu haben? Sie wollen damit sagen, daß Fräulein Doktor Pechl unter normalen Behandlungsmethoden …« Er stockte, weil selbst ihm die letzten Worte schwerfielen.
Hansen schob ihm das dicke Aktenstück zu. »Lassen Sie das von Ihren Gutachtern feststellen. Jeder kann Ihnen sagen, wie die Aussichten gerade bei dieser Art von Krebs sind. Vor allem möchte ich den Chirurgen sehen, der nach gewissenhafter Erwägung des Für und Wider die Meinung vertreten wollte, eine Operation wäre noch möglich gewesen …«
»Ich bin ein medizinischer Laie!« Dr. Barthels schob das Aktenstück in seine Aktenmappe. »Ich kann mich nur auf Gutachten verlassen. Und mir wurde gesagt, daß bei Fräulein Doktor Pechl …«
»Wer sagt Ihnen das? Der aufgeregte Wüllner, der den Kopf verlor und für den ich menschlich noch Verständnis aufbringe? Oder Professor Runkel? Oder Dozent Doktor Färber? Oder der Pathologe Bongratzius, der noch nie einen Krebskranken behandelt hat? Oder Professor Lücknath? Bitte – bringen Sie Ihre Gutachter. Ich bin bereit, vor aller Welt im Gerichtssaal mit ihnen zu diskutieren.«
»Sie sind mir zu stolz, Herr Doktor Hansen! Zu stolz! Alle Eiferer haben bis jetzt Schiffbruch erlitten.«
»Verhaften Sie mich!« rief Dr. Hansen. »Stellen Sie mich vor Gericht! Die ganze Welt wird zuhören! Wird es endlich hören …« Hansens Wangen glühten. »Geben Sie mir die Chance, Herr Oberstaatsanwalt. Ich habe keine Angst vor der Schulmedizin. Ob das im umgekehrten Falle so ist …«
»Wir werden sehen!« Dr. Barthels sah sich im Zimmer um. »Ich muß Ihnen eröffnen, Herr Doktor Hansen, daß Ihr Archiv beschlagnahmt und versiegelt wird. Sie selbst verhafte ich wegen Verdachtes der zweifachen fahrlässigen Tötung und des wiederholten Betruges in sechs Fällen. Wegen Verdunkelungs- oder Fluchtgefahr muß ich auf einer sofortigen Verhaftung bestehen. Morgen wird zur Aufrechterhaltung des Klinikbetriebes ein Arzt aus der Stadt die Leitung übernehmen, voraussichtlich Dozent Doktor Färber …«
»Ach!« Hansen zog langsam seinen weißen Kittel aus. »Herr Färber. Das ist mir lieb. Er ist ein großartiger Arzt!«
Oberstaatsanwalt Dr. Barthels würgte es im Hals. »Ich kann Ihnen versichern, daß es mir nicht leicht fällt, gerade gegen Sie so vorzugehen … Ich hörte übrigens eben von Ihrer Gattin, Sie hätten meine Schwägerin gebessert und sie sei auf dem Wege der Gesundung?«
»Nein!«
»Nein?« Barthels fuhr herum. »Aber …«
»Ich kann doch niemanden heilen! Darum verhaften Sie mich doch. Als Scharlatan! Wenn es Ihrer Schwägerin besser geht, dann war es bestimmt kein Karzinom, was sie hatte. Runkel und Bongratzius werden es Ihnen beweisen! Alle meine Heilungen sind mit Diagnosefehlern der früheren Ärzte zu erklären. Denn Krebs ist unheilbar! Das steht doch in Ihren Akten!«
»Kann ich meine Schwägerin sehen?«
»Natürlich!« Dr. Hansen ging an das große Fenster und schob die Gardine zur Seite. Der Blick ging weit über
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