Die Begnadigung
legen. Aber er spürte von Tag zu Tag, wie sein Körper kräftiger wurde. Wie sein Inneres sich umzustellen begann. Wie alle Faktoren der Therapie, zusammen mit seinem Willen, den Tod zu besiegen, die schleichende Krankheit in ihm zunehmend wirkungsvoller angriffen.
Die Leberverhärtung ging zurück, im Röntgenbild zeigten sich deutliche Veränderungen des Tumors. Es war, als weiche er auf, als zerfalle er, als töte eine ungeheure Macht die Kraft des Wachstums in den gärenden Zellen ab und ließe sie veröden.
Mit großen Augen starrte Karin durch die Okulare der Mikroskope und auf die Röntgenbilder. Sie hatte Hansens Hand umklammert und spürte nicht, wie ihre Fingernägel seine Haut aufschabten.
»Jens …«, sagte sie. »Du hattest recht … Mein Gott, wie glücklich bin ich … Jetzt müssen sie dir glauben!«
»Wegen eines Falles dreht sich die Medizin nicht herum. Auch zehn oder hundert gelten nicht! Erst wenn du die großen Namen überzeugst, beschäftigt man sich mit dir. Aber die großen Namen haben alle ihre eigene Theorie entwickelt und schwören auf sie. Wehe dem, der es wagt, sie anzutasten.«
Karin starrte ihren Mann an. »Willst du zwanzig Jahre so weiterkämpfen, Jens?«
»Wenn es sein muß – fünfzig Jahre!«
»Ob wir das durchhalten …?«
»Es wird sich zeigen, Karin.«
Sie lehnte den Kopf an seine Brust. »Ich habe Angst, Jens.«
»Angst? Wovor?«
»Vor den großen Namen. Wenn du deine Erfolge veröffentlichst … sie werden nicht still sein.«
»Das sollen sie auch nicht! Sie sollen Stellung nehmen. Sie sollen bekennen! Arzt sein, heißt auch Bekennermut aufbringen!«
»Sie werden dich fertigmachen.«
»Sie können keine Röntgenbilder ableugnen.«
»Aber sie können sagen, daß sie sich geirrt haben. Sie können sagen: Es war gar kein Krebs!«
Dr. Hansen lächelte siegessicher. Er legte die Hand auf eine Mappe. ›Svensson‹ stand auf dem Deckel.
»Ich habe ihre eigenen eindeutigen Diagnosen!«
Karin umfaßte Hansen. Sie drückte sich an ihn, als wolle man ihn ihr entreißen.
Sieben Monate hörte Dr. Färber nichts mehr von Dr. Hansen. Aber er wußte, was in dem Provinznest mit der Vier-Betten-Klinik geschah. Man erfährt alles, wenn man nur genügend neugierig darauf ist …
Svensson lebte also noch immer.
Bei den ersten warmen Sonnenstrahlen, die Eis und Schnee schmolzen und die Heide freigaben, hatte er sich aus Kopenhagen sein Reitpferd kommen lassen. Einen Apfelschimmel, der bald in der ganzen Gegend bekannt geworden war. Auf ihm ritt Svensson einkaufen, auf ihm suchte er für Dr. Hansen entlegene Höfe auf, um Medikamente zu überbringen. Seine Unternehmungslust schien unbändig. Für alle Nöte und Späße hatte er Verständnis. Nur in einem Punkt blieb er unnachgiebig: Bot man ihm als Dank für seine Mühe eine Bauernmahlzeit mit Fleischgebirgen, Würsten und Speck an, lehnte er mit Bestimmtheit ab und begnügte sich mit einer Tasse dicker, saurer Milch.
Es dauerte nicht lange, und er hatte seinen Spitznamen weg. ›Der Sauermilchreiter‹ nannten ihn die Bauern. Niemand sprach von da ab mehr von einem Herrn Svensson. Selbst zu Dr. Hansen kamen die Bauern und sagten: »Doktor … die Salbe kann ja der Sauermilchreiter bringen. Der kann so schöne Witze erzählen …«
Björn Svensson freute sich über diesen Namen. Zwischen der Familie Hansen und Svensson war längst das Verhältnis Patient-Arzt gefallen. Es war zu einer Freundschaft gewachsen. An dem Abend, als man das Du erklärte, erlaubte Hansen zum ersten- und letztenmal eine Flasche Sekt.
Mit peinlicher Genauigkeit führte Hansen sein Tagebuch über Svensson. Es war unheimlich, wie der Patient die Krankheit in seinem Körper überwand, wie sich alle Abwehrstoffe hatten mobilisieren lassen, wie der Tumor begann, vor dem Stärkeren, vor dem biologischen Generalangriff zu resignieren, morsch und müde wurde und sich stückweise ausschwemmen ließ.
Im Frühsommer ritt Björn Svensson mit den Bauernburschen um die Wette. Seine Vitalität riß die Müdesten mit.
Im Juli machte Björn Svensson einen Ritt durch die wogenden Kornfelder und prüfte die Ähren. Er war braungebrannt, hatte zehn Pfund zugenommen und litt an Sodbrennen. Der Magen hatte die Magensäureproduktion wieder aufgenommen. Es war der Generalangriff auf das Karzinom.
Neben ihm hielt plötzlich ein offener Sportwagen. Ein Herr mit weißer Sportmütze sah zu dem Reiter empor. Er starrte ihn an, als erblickte er ein Weltwunder.
»Herr
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