Die Begnadigung
verabschiedete sich mit netten Worten. Hansen hörte immer wieder heraus: »Wir können uns mit dieser Therapie nicht befreunden.« Oder: »Wir verstehen Sie nicht, Herr Hansen …« Oder: Schweigen. Ein langer Blick beim Händedruck. Ein Blick, der das aussagte, was der Mund aus Höflichkeit verschwieg: ›Sie rennen einem Phantom nach …‹
Nur eine Handvoll Ärzte blieb zurück. Fünf junge Mediziner und eine schwarzhaarige, mädchenhafte Kollegin mit braunen, glänzenden Augen. Sie warteten, bis die anderen Gäste den Saal verlassen hatten und von Franz Wottke bis zum Ausgang begleitet wurden.
Stumm sah Dr. Hansen die sechs Zurückgebliebenen an. Glauben sie, dachte er. Oder suchen sie nur ein Abenteuer? Habe ich sie wirklich überzeugt?
»Sie sind mutig«, sagte Dr. Hansen langsam. Die sechs zuckten zusammen.
Nacheinander traten sie vor, nannten ihre Namen.
»Peltzer.«
»Summring.«
»Adenberg.«
»Reitmayer.«
»Wüllner.«
Als letzte die junge Ärztin. Ihr Händedruck war fest, voll Vertrauen und Anerkennung.
»Marianne Pechl.«
»Sie haben wirklich Mut«, wiederholte Hansen und hielt ihre Hand fest. Dr. Marianne Pechl schüttelte den Kopf. Ihre schwarzen Locken wirbelten um das runde Gesicht.
»Ein Arzt, der keinen Mut hat, wäre besser Schriftsteller geworden.«
»Sie halten Schriftsteller nicht für mutig?«
»Wenig. Sie erleben ihre Abenteuer meist gemütlich am Schreibtisch.«
Hansen lachte. Die Spannung, die zwischen den sechs Zurückgebliebenen gelegen hatte, löste sich. Franz Wottke kam vom Eingang zurück in den leeren Saal. Er hielt seine Schirmmütze in der Hand. In seinen weißen Haaren glitzerten Eiskristalle.
»Sie sind weg, Herr Chefarzt!« sagte er. Zum erstenmal nannte er Hansen Chefarzt. Es berührte Hansen merkwürdig. Er wandte sich zu den sechs Ärzten, die stumm herumstanden, etwas hilflos und verloren in dem großen Saal. Er hatte fast das Gefühl, glücklich zu sein …
Am nächsten Tag zogen die Schwestern ein, die Diätköchinnen, die Krankenpfleger, die Laboranten, die Sekretärinnen. Leben kam in das etwas abseits liegende Schwestern- und Ärztehaus, ein Hauch von Gesundheit.
Dr. Hansen hatte in den vergangenen Wochen jeden Mitarbeiter gründlich ausgesucht.
Jetzt ging er durch die Zimmer und Wohnungen seiner neuen Mitarbeiter. Der Verwaltungsdirektor, aus einer großen bayerischen Privatklinik nach Plön gekommen, begleitete ihn. Sie überzeugten sich, daß das Personal zufrieden war.
Am Nachmittag wurden die Stationen eingeteilt. Der Diätplan für die nächsten vier Wochen stand bereits fest, der Behandlungsplan war in den Grundzügen durchgesprochen worden. Anhand der Röntgenbilder und der von den ersten Patienten eingeschickten Krankengeschichten waren die individuellen Therapiemaßnahmen fixiert worden. Die genauen Behandlungen mußten nach der klinikeigenen Untersuchung erst festgestellt werden.
Und dann war Jens Hansen allein. Das große Haus schlief. Nur im Ärztekasino brannte noch Licht. Dort diskutierten die jungen Assistenten. Ab und zu wehte der Wind die Klänge von Klaviermusik herüber, zerflatternde Töne einer Melodie. Marianne Pechl, dachte Hansen. Sie hat gesagt, wie gern sie Klavier spielt. Eigentlich hatte sie Pianistin werden wollen.
Jens Hansen stand am Fenster seiner Wohnung im Parterre der Klinik und legte die Stirn gegen die kalte Scheibe. Der See lag dunkel, halb zugefroren unter einem verhangenen Himmel. Vielleicht schneite es in dieser Nacht wieder, wenn es nicht zu kalt war.
Nie hatte er seine Einsamkeit so bedrückend empfunden wie jetzt. Übermorgen kamen die ersten Patienten. Noch achtundvierzig Stunden, und er trat in ein Leben ein, das Höhepunkt oder Absturz sein konnte. Jetzt, in diesen langen, unendlich schleppend dahingehenden achtundvierzig Stunden, brauchte er – Karin. Brauchte er eine Hand, die ihn hielt, brauchte ihre Nähe, wollte ihren Atem hören und den Kopf an ihre Schulter lehnen …
Brüsk wandte sich Hansen um und ging zum Telefon. Er wählte Hamburg. Als er die polternde Stimme seines Schwagers hörte, wich der Druck, der auf ihm lag.
»Wie geht es Karin?« fragte er hastig. »Schläft sie schon?«
»Du hast Nerven! Mitten in der Nacht fragst du, ob sie schläft!« Hugo Kieling gähnte. Man hörte es klar, die Verbindung war deutlich. »Die Frauen waren heute im Kino.«
»Im Kino? Karin?«
»Wir lenken sie ab, so gut es geht. Sogar die Zeitungen verbergen wir vor ihr, in denen über die
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