Die Begnadigung
ein bekannter Hamburger Rechtsanwalt war, hatte ihm versprochen, anzurufen und von Karin zu berichten. Er war ein massiger Mann mit einer Vorliebe für alten französischen Rotwein. »Ich bring' Karin schon wieder hin, Jens«, hatte er versprochen. »Idealisten wie dir fehlt die leitende Hand. Ein guter Reiter reitet mit Kandare, aber er gebraucht sie nur selten! Du kommst mir vor wie ein Anfänger, der ohne Sattel und Zaumzeug über Zweimeterricks springen will …«
So vollgepumpt mit tröstenden Worten fuhr Hansen langsam durch die Nacht der Holsteinischen Schweiz entgegen. Beim Morgengrauen sah er den See vor sich liegen. Der Komplex der Krebsklinik schälte sich aus dem Morgendunst.
In der Wohnung Franz Wottkes brannte bereits Licht.
Hansen sah auf seine Uhr. Kaum sechs.
Am Ufer hielt er an. Der Morgenwind drang durch die Seitenscheiben. In der Klinik gingen die Lichter an. Erst in der Eingangshalle, dann in den OPs, im Treppenhaus … Franz Wottke ging durchs Haus und kontrollierte die Heizungskörper. Ist sie Karin wert, diese Klinik, dachte Hansen. Ihn fror. Er schlug den Mantelkragen hoch und zog die Schultern zusammen. Hat dieses Haus ein Recht, mich ganz in Anspruch zu nehmen?
Aus vielen Fenstern fiel jetzt Licht. Ein Luxushotel des Leidens. Aber auch eine Oase der Hoffnung.
Hoffnung … das zweitschönste Wort der Menschen nach dem Wort Liebe.
Hansen ließ den Wagen wieder an und fuhr in den Innenhof der Klinik.
Auf der Treppe zum Eingang lief ihm Franz Wottke, der Hausmeister, entgegen.
»Herr Doktor!« rief er. »Ich habe überall herumtelefoniert, wo Sie sind! Haben Sie denn vergessen: Heute stellen sich doch die anderen Ärzte vor … Um zehn Uhr!«
Verdiente Einzelgänger, die leider mit keinem Wort erwähnt wurden, haben auf dem Krebsgebiet bereits seit langer Zeit eine ungeheure Pionierarbeit geleistet …
(Prof. Dr. Maurer, München,
auf dem Chirurgenkongreß 1960)
Pünktlich um zehn Uhr ließ Hansen die Bewerber in den großen Gemeinschaftsraum der Klinik bitten. Franz Wottke stand hinter einem Epidiaskop, neben sich einige Schachteln mit Dias und Zeitschriften. An der Rückwand des Saales hing eine große Kinoleinwand.
Im weißen Kittel begrüßte Hansen die jungen Kolleginnen und Kollegen. Er gab jedem die Hand, freundlich, mit ein paar persönlichen Worten. Dabei löste sich die konventionelle Spannung, die Scheu, dem ›Chef‹ gegenüberzustehen, die natürliche Angst und das hemmende Minderwertigkeitsgefühl, das jeder Kliniker kennt, wenn er dem ›Großen‹ gegenübertritt.
Hansen kannte das aus seiner Krankenhauszeit. Der Chef ist der ungekrönte König, der Oberarzt sein Minister und der kleine Assistenzarzt ein Nichts. So sollte es in der Klinik Hansens nicht sein …
Jens Hansen sah über die vor ihm sitzenden jungen Ärztinnen und Ärzte. Er stand – innerlich etwas aufgeregt – vor ihnen. Man erwartete von ihm Wundertaten, das wußte er. Und er hatte plötzlich Angst.
»Meine Damen und Herren!« Die Stimme Hansens klang trotzdem sicher durch die Stille, die im Saal lag. Sie klang klarer und forscher, als er es von sich erwartet hatte. »Ich will Ihnen an Hand einiger Bilder zeigen, welche Therapie wir in unserem Hause anwenden werden. Ich werde es verstehen, wenn einige der Kollegen danach aufstehen und weggehen werden. Unsere Arbeit wird sich aufbauen auf die Hoffnung, einen der Wege im Kampf gegen den Krebs zu beschreiten, nicht auf die Sicherheit, daß es der richtige Weg ist! Aber jeder kleinste Erfolg ist so ungeheuer wichtig für die Krebsbekämpfung, daß wir uns an ihn klammern sollten.« Er holte tief Atem: »Wir sind der Ansicht, der Krebs ist keine Lokalerkrankung. Die sichtbaren Tumore können nicht allein die Krankheit Krebs sein, sondern nur die Erscheinungsformen! So wie man ein maulwurfdurchwühltes Feld nicht reinigt, indem man die Maulwurfhügel abträgt, den Maulwurf aber in der Erde läßt, so wenig ist der Krebs zu heilen, indem man die Geschwülste entfernt, die ursächliche Krankheit aber im Körper läßt. Krebs ist für uns eine Ganzheitserkrankung des Körpers und deshalb neben der Chirurgie auch ein Therapiefeld der Inneren Medizin! In diesem Sinne begrüße ich Sie in der neuen ›See-Klinik‹, der ersten deutschen Krebsklinik interner, biologischer Kombinationstherapie …«
Nach einem Zwei-Stunden-Referat mit Bildreihen des ›Falles Svensson‹ hatte Dr. Hansen seine Gäste vor die Entscheidung gestellt. Ein großer Teil der Ärzte
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