Die Begnadigung
Karin hielt sich an der Fensterkurbel fest.
»Zu meiner Schwester. Ich bleibe dort, bis du dich endgültig entschieden hast. Klinik oder ich! Ich und Kinder … oder Scheidung?«
»Karin! Du stellst mir ein Ultimatum! Ich bitte dich, nimm es zurück! In drei Wochen kommen die ersten Patienten. In vierzehn Tagen ziehen die Ärzte und Schwestern ein. Es gibt doch kein Zurück mehr!«
»Eben, Jens! Drum fahr' mich bitte nach Hamburg.«
Sie lehnte sich zurück. Die Gleichförmigkeit, mit der sie gesprochen hatte, erschreckte Hansen tief. Er spürte das Endgültige, zu dem sich Karin in den einsamen Wochen ihrer Krankheit durchgerungen hatte.
Widerspruchslos bog er nach ein paar Kilometern ab und fuhr über den Zubringer zur Hamburger Autobahn.
Karin schwieg. Nicht einmal das »Fahr' bitte nicht so schnell« sagte sie mehr.
Kurz vor der Autobahnabfahrt hielt Hansen am Seitenstreifen an. Seine Stimme schwankte.
»Karin … gibt es denn keine Möglichkeit mehr? Wir lieben uns doch …«
Sie drehte ihm einen langen Augenblick das Gesicht zu, dann wandte sie es wieder ab. »Fahr' bitte weiter«, sagte sie, »es wird schon dunkel.«
»Soll das das Ende sein, Karin?«
»Für dich ist es ein Anfang. Ich werde beten, daß dir alles gelingt …«
Der Abschied war kurz. Karin und Jens gaben sich die Hand, als seien sie nur gute Bekannte, die ein Stück Weges zusammen gefahren waren. Karin strich sich über die Augen. »Ich bin müde, Jens«, sagte sie. »Ich lege mich gleich hin. Ich wünsche dir viel, viel Glück …«
»Karin!« Hansens Stimme zerfiel. »Sollten wir nicht doch noch einmal über alles reden …?«
»Warum denn, Jens?« Sie sah ihn aus großen, leeren Augen an. Dann nickte sie ihm zu, wandte sich ab und verließ langsam das Zimmer, in dem Hansen und Frau Kieling, Karins Schwester, zurückblieben. Hansen hatte Karin auf ihren Wunsch bei ihrer Schwester abgesetzt und ihr Gepäck hinauf in die Wohnung gebracht.
Frau Kieling hatte sich nicht gewundert, als ihre Schwester vor der Tür stand. In den sechs Wochen, die Karin in der Klinik lag, hatte sie oft mit ihr telefoniert, hatte versucht, sie zu besänftigen, ihr gut zuzureden und ihr Mut einzuflößen. »Wenn du erst gesund bist, wirst du keine Sekunde mehr daran zweifeln, ob du mit dem, was kommt, fertig wirst.« Aber es hatte nichts gefruchtet. Der Schock saß anscheinend zu tief. Vielleicht war es verkehrt gewesen, in sie zu dringen, vielleicht war es wichtiger, daß man ihr Zeit ließ, mit allem fertig zu werden.
»Es ist nur eine Nachwirkung, glaub es mir«, sagte Frau Kieling zu ihrem Schwager Hansen. »Sie hat mir alles erzählt … sie war nie die Robusteste von uns vier Schwestern. Verlaß dich auf mich. Du mußt nur Geduld haben, Jens …«
»Sie kann einfach nicht verstehen, daß ich für die Kranken da bin«, sagte Hansen, »daß zuerst die Kranken kommen und dann wir und unser Leben.«
»Welche Frau könnte das in dem Maße begreifen, wie du es forderst? Ich gebe sogar zu, daß es auch mir schwerfällt. Was du mit deiner Krebsklinik bezweckst, ist mir geradezu unheimlich.«
»Ich will helfen, weiter nichts!«
»Weiter nichts! Wie stolz das klingt! Helfen und heilen, mit Mitteln, die gegen alle Vernunft sind?«
»Was ist Vernunft in der Krebstherapie?« Dr. Hansen zog den Mantelkragen hoch. Es war, als fröre er. Überall eine Wand, gegen die ich anrenne, dachte er. Hat man das allgemeine Denken schon so schablonisiert, daß jeder freie Gedanke unerhört und bekämpfungswürdig wird?
Frau Kieling hob die Schultern. »Du bist wie Hugo, Jens, ihr schlagt euch mit unlösbaren Problemen herum … Ich verstehe das einfach nicht … Ist das alles deine Karin wert? Kannst du Karin dafür hergeben?«
»Sie geht, nicht ich! Wenn jetzt einer einen seelischen Halt braucht, bin ich es! Ich muß diesen Weg gehen!«
Die Schwägerin nickte. »Laß Karin bei mir, Jens. Sie soll sich hier erholen. Vielleicht wird sie zurückkommen, wenn sie sieht, daß dein Weg nicht so unüberwindlich steil ist …«
»Vielleicht … sagst du …?«
»Ja. Vielleicht. Heute ist es für Karin endgültig.« Sie hielt Hansen am Mantel fest, als er mit einer plötzlichen Bewegung zum Schlafzimmer stürzen wollte. »Bitte, bleib jetzt. Dränge sie nicht. Du magst ein Genie sein – wer weiß es? – aber von Frauen verstehst du nichts. Gar nichts!«
In der Nacht fuhr Hansen von Hamburg zurück nach Plön. Er hatte Karin nicht mehr gesehen. Schwager Hugo Kieling, der
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