Die Begnadigung
»Du verlangst, daß ich diesen Hansen, dieses … dieses … Schwein, das mir die Frau …«
»Ich bin zu ihm gegangen, Hubert! Er wollte mich nicht! Das ist die reine Wahrheit …«
»Ich glaube nicht an diese vier – Heilungen!«
»Du kannst die Röntgenbilder sehen!«
»Was besagen die schon! Und soll ich zu Runkel gehen und sagen: Herr Professor, Sie sind ein großer Chirurg. Sie haben Tausenden das Leben gerettet. Aber Sie sind ein Starrkopf, wenn es um Krebs geht. Ich verlasse Sie und schließe mich denen an, die es mit einer biologischen Therapie versuchen … Das wäre das Ende meiner Karriere!«
»Ist es befriedigend, durch Feigheit Karriere zu machen? Ich kann nicht verstehen, wie ein Mann Achtung verlangt – auch von der eigenen, wenn auch weggelaufenen Frau – wenn er so feig ist wie du!«
Herta Färber stand steif in der ins Zimmer flutenden Sonne. Das grelle Licht durchflutete ihr Kleid. Sie nahm ihre Handtasche vom Tisch und ging hochaufgerichtet an Hubert Färber vorbei zur Tür. Ihr hochmütiges Gesicht mit den hochgezogenen Augenbrauen regte Färber maßlos auf. Er packte ihren Arm und riß sie zu sich herum.
»Man sollte dich töten!« sagte er heiser.
»Warum mich? Du tötest Tausende, indem du zu Dingen schweigst, über die man reden sollte!«
Sie schlug mit der rechten Hand auf seine ihren Arm umklammernden Finger. Da ließ er sie los, hochrot im Gesicht.
»Und ich werde Hansen nie, nie unterstützen!« schrie er. Es brach aus ihm heraus wie eine Feuersäule aus einem Vulkan. »Erst soll er zertreten werden …«
Herta sah ihren Mann lange an. Stumm, mit starren, kalten Augen. Dann wandte sie sich ab und hob leicht die Schultern.
Sie ging durch die Diele, öffnete die Haustür und trat hinaus in die Sonne, während sie die Tür hinter sich zuzog.
Vier Heilungen, dachte Färber, der immer noch an der gleichen Stelle stand, an der er gedemütigt worden war. Heilung von Inkurablen. Das ist ja lächerlich. Vier Heilungen … und ich suche mein Gewissen und laufe vor ihm weg …
Die Visite in der Klinik machte an diesem Nachmittag der 2. Oberarzt.
Es war, als sei die Klinik plötzlich zu eng geworden. Dr. Hansen überfiel nach dem Weggang Herta Färbers eine rätselhafte Unrast. Er ließ von Franz Wottke seinen Wagen aus der Garage fahren und übergab die Leitung der Klinik für diesen Tag an Dr. Wüllner.
Dann fuhr er nach Süden, auf alten, bekannten Straßen, die er fast ein Jahr lang nicht gesehen hatte.
Zu Fuß ging er dann die Wege durch Birkenwälder und Wacholdergruppen, über Heide und kaum merklich schwankenden Moorboden, bis er von weitem sein altes Haus sah – und die ›Vier-Betten-Klinik‹!
›Pension Karin‹, las er an der Front des Hauses.
Dr. Hansen blieb stehen. Karin hatte eine Pension aufgemacht. Schwager Kieling hatte es nie erwähnt. Er hatte nur immer gesagt: »Karin geht es gut. Laß sie in Ruhe, Jens … sie ist jetzt drüber weg!«
Er bog die Zweige der Hecke auseinander und sah auf die Rasenflächen. Ein Minigolfplatz war dort angelegt worden. Vier sommerlich angezogene Gäste spielten mit Begeisterung. Auf der Terrasse lagen zwei Mädchen in der Sonne. Die Bedienung in der weißen Schürze räumte die Tische ab.
Vom Waldrand aus beobachtete Karin den einsamen Mann hinter der Hecke. Sie hatte einen Korb voller Blumen am Arm. Als sie Jens Hansen erkannte, begann sie an allen Gliedern zu zittern …
Warum ist er gekommen, dachte sie. Diese Färber war noch bei ihm, sie wußte es von ihrem Schwager, dem Anwalt Hugo Kieling. Welchen Sinn hat es, einen Ausflug in die Vergangenheit zu machen, wenn man sich von der Gegenwart nicht trennen kann?
Er sieht nicht glücklich aus, dachte Karin. Sie konnte es in Wahrheit gar nicht erkennen, aber sie war fest davon überzeugt.
Plötzlich hatte sie das Gefühl, zu ihm gehen zu müssen. Das Jahr, dieses grauenhafte Durchleben zwölf sinnloser Monate, das Durchweinen Hunderter Nächte, die Verzweiflung, aus Selbstvorwürfen geboren und deshalb doppelt zerfleischend, zerfloß in dem drängenden Gefühl: Geh zu ihm … geh doch … Vielleicht braucht er dich … Vielleicht ist er gekommen, dich zu suchen … Du kennst ihn doch, Karin … er ist ein großer Arzt, aber vor sich selbst ist er ein kleiner hilfloser Junge …
Karin umklammerte den schlanken, glatten, weißen Stamm der Birke, hinter der sie stand. Sie preßte den Kopf an die Rinde und hielt sich fest, um nicht zu Jens zu laufen. Nein, sagte sie sich,
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