Die Begnadigung
nein! Es ist vorbei … vorbei … vorbei … Man kann nichts mehr zurückdrehen … O Jens, wir haben keine Stimme mehr, die weit genug dringt, damit wir uns noch hören …
Auch wenn ich dich noch liebte. Auch dann nicht …
Im OP I, dem ›Chef-OP‹, wurden die letzten Leitungen gelegt. Kabel, Scheinwerfer, Mikrophone, Verstärker, drei Filmkameras … alles steril gemacht in stundenlanger Arbeit unter Aufsicht zweier Klinikärzte. Professor Runkel würde operieren, und durch eine große Glaskuppel würden die Studenten ihm zusehen.
Diesmal wollte Professor Runkel eine chirurgische Glanzleistung demonstrieren: Die Stillegung eines großen Stückes der Brustaorta und die Umlenkung des Blutkreislaufes über eine neue Aorta aus Kunststoff. Die gesamte Operation sollte gefilmt werden. In allen Ländern sollten die Aufnahmen gezeigt werden, in den Hörsälen der Universitäten, in Ausschnitten in den Fernsehprogrammen. Dozent Dr. Färber sollte assistieren. Zwei Anästhesisten, zwei Internisten, sechs Assistenten und ein kleines Heer von OP-Schwestern standen zur Verfügung. Man dramatisierte den großen Eingriff etwas … die absolute Nüchternheit einer Operation ist nicht fotogen.
Im Vorbereitungszimmer lag die zweiunddreißigjährige Patientin auf dem fahrbaren Bett. Sie schlief bereits fest, die Anästhesisten hatten ihr die intravenöse Zuleitungsnarkose gegeben. Jetzt bereiteten sie die Intubationsnarkose vor. Ohne Hoffnung hatte die junge Frau in die Operation eingewilligt. Professor Runkel hatte ihr die Wahrheit gesagt. Ein Eingriff, der bisher nur im Tierversuch unternommen war. Noch nie an einem Menschen. Die Transplantierung einer ganzen Aorta. Da es die letzte Chance war, hatte sie zugestimmt. Es war nichts zu verlieren, aber alles zu gewinnen.
Im Chefzimmer standen Runkel und Färber noch einmal vor dem Leuchtkasten mit den Röntgenplatten. Runkel hatte die Goldbrille auf die Stirn geschoben und zeichnete mit einem Fettstift die Stellen an, in die er die neue Aorta einpflanzen wollte. Fast die gesamte Brust-Aorta wurde durch die neue Kunststoffader überbrückt. Eine Doppelanastomose war zu machen. Hier lag die große Schwierigkeit der ganzen Operation. In der Zeit des Eingriffes wurde der Blutkreislauf über eine Herz-Lungen-Maschine umgeleitet.
»Können wir?« fragte Runkel. Er legte den Fettstift zur Seite und schob die Röntgenplatte aus dem Lichtkasten. Färber schloß von dem plötzlichen Licht die Augen.
»Ja, Herr Professor …«
»Haben Sie wieder getrunken?«
»Nein, Herr Professor.« Es war beschämend, sich dies fragen zu lassen. Färber empfand es klar, aber er ließ es über sich ergehen.
»Sie werden heute im Blickfeld der Welt stehen, lieber Färber! Eine einzige Unsicherheit nur … trauen Sie sich die Operation zu? Ich nehme es Ihnen nicht übel, wenn Sie …«
Dozent Dr. Färber schüttelte den Kopf. Runkel sah ihn von der Seite an. Mit dem Zeigefinger schob er die Brille wieder über seine Augen.
»Na, dann los! Lampenfieber?«
»Nein, Herr Professor!«
»Schade! Sie sollten es haben! So ganz gefühllos sind wir Chirurgen denn doch nicht. Ich habe Lampenfieber. Scheußliches sogar …«
Im OP surrten bereits die sterilen Kameras, als Runkel und Färber im Vorbereitungsraum mit den Waschungen begannen. Die Patientin war schon anästhesiert, gewaschen, abgedeckt. Seitlich von ihr war die große Herz-Lungen-Maschine hereingerollt worden. Vier Spezialärzte saßen um sie herum und warteten auf den Beginn der Operation. Blutkreislaufkontrollen und elektrische Herzschlagmessungen waren bereits angeschlossen. Während die Filmkameras den OP-Tisch, die Herz-Lungen-Maschine, die vermummten Ärzte, die Anästhesieapparate und die für einen Laien so erregende Atmosphäre eines Operationsraumes fotografierten, starrten die Augen der Ärzte hinüber zum Vorbereitungsraum. Auf den Chef. Auf den I. Oberarzt. Auf zwei Männer, die der Chirurgie eine neue Tür aufrissen.
Als sie durch die lautlos zurückgleitende Schiebetür den OP betraten, richteten sich alle Kameras auf die beiden weißen Gestalten. Professor Runkel hielt seine bloßen Hände weit vom Körper weg. Er operierte ohne Handschuhe. »Das Gefühl meiner Fingerspitzen bedeutet Leben oder Tod«, sagte er einmal in seiner etwas selbstbewußten Sprache. »Ich muß voll tasten können …«
Dr. Färber setzte sich auf einen hohen Hocker neben die Patientin. Runkel stellte sich hinter ihn. Die Öffnung des Brustkorbes, die
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